Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.
Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.
„Probably“, „maybe“, „perhaps“:
Die ethische Strenge und die Erfindungen von J. Hillis Miller
Wie stellt man es an? Wie sagt man es? Ich würde diesen Text hier gern dem Gesetz der Gattung „Hommage“, und sei sie noch so ernst gemeint, und dem wohlbekannten akademischen Schauplatz entziehen: Ein langjähriger Freund und Kollege widmet einem berühmten Kollegen und Freund einen Essay, einem einflussreichen und ausgezeichneten Professor, dessen Werk er mit anderen zusammen grüßen will, eines der reichsten und eindrucks-vollsten Werke, die ihm im Laufe seines Lebens zu achten gegeben waren. Überdies fühle ich mich nicht fähig, auf wenigen Seiten hier meine Bewunderung und meine Dankbarkeit für Hillis Miller zu ermessen, und noch weniger fähig, eine miteinander geteilte Geschichte zu erzählen, ich würde sagen eine Gefährtenschaft – die außerdem in ihren großen öffentlichen Zügen meistenteils bekannt ist: dreißig Jahre schattenloser Freundschaft, gemeinsamer Arbeit, Seite an Seite gegangenen Weges – „teaching“ and „reading“, wie es in der Passage aus The Ethics of Reading heißt, die als Motto zitiert ist – in denselben Institutionen, John Hopkins, Yale, Universität von Kalifornien, Irvine, so viele private und öffentliche Begegnungen, so viele Tagungen und all dies durchzogen von einer so tiefen Übereinstimmung in dem, was Hillis Miller The Ethics of Reading nennt und vielleicht, wenn ich es zu sagen wagen würde, „Ethics“ kurzum. Daher hielt ich nach langem Kalkül schließlich die folgende Wahl für richtiger: Was ich Hillis Miller anbieten und von der Lektion inspiriert, die ich wie so viele andere von ihm erhalten habe, ihm zu lesen und zu beurteilen geben möchte, ist die möglichst anspruchsvolle, aber auch die zitterndste Interpretation einer gewissen „Geschichte“.
Diese „Geschichte“ ist nicht irgendeine. Sie war der unseren nicht fremd, ihr war eben das, ihr war eben der nicht fremd, der andere Freund, der „zwischen uns“ war, ich habe soeben Paul de Man genannt. Sie ist der indirekte Gegenstand eines récit, sagen wir einer Narration. Einer literarischen Narration, einer „Fiktion“, wie man allzu leicht sagt. Ja, behalten wir für den Augenblick das recht neutrale Wort Narration. Behalten wir es aus drei Gründen.
Einerseits sagt man mir, dass die in dieser Festschrift1 versammelten Texte die „Narrativität“ zum Leitmotiv machen sollen. Andererseits hat Hillis Miller, unter anderen Dingen, die Lektüre und das Denken der Narration meisterhaft erneuert – und zwar nicht nur als literarische Fiktion und nicht nur in der sogenannten Victorian Fiction. Und schließlich und vor allem, weil das Werk, das ich gleich als Beispiel nehmen werde, Le Parjure, zwar sicherlich in seiner Struktur narrativ scheint (auf dem Buchdeckel steht, ich erinnere daran, „Roman“), jedoch ernstzunehmende Probleme aufwirft, was sein Verhältnis zur „real“ genannten Geschichte angeht (diejenige von Paul de Man, die also die unsere, wenn man so sagen kann, von ganz Nahem durchquert haben wird, diejenige von Hillis Miller und die meine, unter anderen), was sein Verhältnis zur Fiktion, zum Zeugnis angeht, kurz, zu all den „Unbekannten“, die man heute unter den Worten Wahrheit und Wirklichkeit einschreiben kann, aber auch unter den Worten Ehrlichkeit, Lüge, Erfindung, Simulakrum oder Meineid, und so weiter.
Um meine Wahl, noch bevor ich anfange, zu begründen, rekonstituiere ich noch einige Prämissen. Mindestens drei, deren Konfiguration auch eine Zusammenfügung von datierten Ereignissen oder scheinbar irreversiblen Sequenzen ist. In allen drei Fällen handelt es sich darum zu wissen, was „sich erinnern“ heißt – und was es heißt, daran zu denken, sich zu erinnern: nicht vergessen, sich zu erinnern, nicht vergessen, im Gedächtnis zu behalten, aber auch nicht vergessen, daran zu denken, sich zu erinnern, was in französischer Syntax auch heißt: denken, weil, genauso wie, so lange wie, insofern als man sich erinnert: das Denken als Gedächtnis und zunächst als Gedächtnis von sich selbst, Gedächtnis des anderen in sich selbst. Ich denke an dieses englische Wort, rufe mir in Erinnerung „to re-mind“, dessen Rätsel mich stets fasziniert hat: nicht vergessen, ins Gedächtnis zurückzubringen; jemandem in Erinnerung rufen; daran denken, in Erinnerung zu rufen; aufmerksam machen, mit einem Zeichen, einem Zettel, einem Memento, einem reminder. Bereits eine Mnemotechnik, die dem Denken des Denkens inwendig und nicht auswendig ist, nicht außerhalb, sondern im Herzen davon, das Denken zu denken.
1. Erster reminder: ein Moment im Werk von Hillis Miller. Seit einigen Jahren hat Miller bekanntlich mit der Erarbeitung einer neuen Problematik begonnen: im bodenlosen Grund einer abgründigen Inszenierung, im schlagenden Herzen dessen, was man seelenruhig die literarische Fiktion nennt, die noch unsichtbare Ader einer für alterslos gehaltenen Frage zu entziffern, die große und unerschöpfliche Geschichte der Lüge, das heißt des Meineids. Jede Lüge ist ein Meineid, jeder Meineid impliziert eine Lüge. Eins wie das andere verraten sie ein Versprechen, das heißt einen zumindest impliziten Eid: Ich schulde dir die Wahrheit, sobald ich zu dir spreche. Davon zeugt eine gewisse Anzahl jüngerer Essays, die sich oft Proust widmen.2 Diese Problematik hat sich kühn auf den Weg dessen eingelassen, was Miller „polylogoly“, das ist sein Neologismus, zu nennen vorschlägt. Sie öffnet einer zumindest impliziten Vielzahl von Stimmen, narrativen oder narratorischen Ursprüngen den Raum, um dieser Vielzahl dann auch konsequent Rechnung zu tragen. Diese Stimmen sind lauter legitimierende Quellen, Quellen von Autorität oder von Legitimität („the implicit multiplicity of the authorizing source of a story“3). Sobald es mehr als eine Stimme in einer Stimme gibt, beginnt die Spur des Meineids, des parjure, sich zu verlieren oder uns in die Irre zu führen. Diese Zerstreuung bedroht selbst die Identität, den Status, die Gültigkeit des Begriffs. Insbesondere des Begriffs parjure. Und genauso des Wortes und Begriffs „ich“. Dieser Vielfalt von Stimmen oder „Bewusstseinen“ gibt Miller mehrere Namen. Er erkennt ihnen mehrere Figuren zu, ob er nun selbst den neuen Ausdruck dafür signiert und schmiedet (beispielsweise eben „polylogology“, oder sogar „alogism“), oder ob er ihn entlehnt und ihm ein anderes Schicksal beschert, ihn anders ins Werk setzt, wie beispielsweise, Friedrich Schlegel folgend, als „permanent parabasis of irony“4. Ich möchte jedoch auf der ergreifendsten und wohl produktivsten dieser Figuren insistieren, auf derjenigen, die eine machtvolle allgemeine Formalisierung gewährleistet, während sie zugleich für immer der fiktionalen Singularität eines Corpus eingeschrieben, darin verwurzelt bleibt, das diese Figur bereits in sich selbst produziert, wie eine Art allgemeines Theorem, wie eine verallgemeinerbare theoretische Fiktion, wenn ich so sagen kann, wie eine Fiktion mit dem Wert einer theoretischen Wahrheit und mit ethischer Dimension: Es ist die des Anakoluths.
Das Anakoluth also: mehr als eine rhetorische Figur, allem Anschein zum Trotz. In jedem Fall weist sie zum Jenseits des Rhetorischen in der Rhetorik hin. Jenseits der Grammatik in der Grammatik. Mit einer Geste nun, deren Notwendigkeit und Eleganz ich stets bewundert habe, findet Miller im Text von Proust selbst das, was er erfindet, nämlich einen Namen und einen Begriff, die er dann arbeiten lassen wird, auf produktive, demonstrative, verallgemeinerbare Weise – die weit über diese einzigartige literarische Wurzel, weit über dieses Werk hinausreicht. In der Schwierigkeit, die sich anzukündigen schien, steckt man jedoch schon, sobald der theoretische Begriff selbst zur Fiktion gehört, sobald er sich im untersuchten Werk am Werk befindet. Er ist Teil der narrativen Fiktion, die ihn also in genau dem Moment begreift, wo er erlaubt, sie ihrerseits zu begreifen.
Der Begriff ist machtvoller als das Werk, das machtvoller ist als der Begriff. Diese theoretische Verallgemeinerung taucht nicht erst nachträglich auf. Miller suchte sie. Weil er sie suchte, weil er sie antizipierte, dabei jedoch ihre Notwendigkeit verspürend, hat er sie bei Proust zugleich entdeckt und erfunden. Er hat sie da gefunden, wo sie sich befand. Er hat sie beim anderen er-funden, in beiden Bedeutungen des Verbs inventer: Er hat sie hervorgebracht und zum Vorschein gebracht, offenbart. Er lässt sie, in einer inauguralen Geste, da auftauchen, wo ihr Körper sich bereits befand, sichtbar und unsichtbar zugleich. Das lange Zitat aus The Anacoluthonic Lie, das ich wagen werde, setzt dasjenige fort, das meinem Text...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2020 |
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Reihe/Serie | Passagen forum |
Passagen forum | Passagen forum |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Peter Engelmann Zusammenstellung: Geoffroy Bennington, Marc Crépon, Thomas Dutoit |
Übersetzer | Markus Sedlaczek |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
Schlagworte | Philosophie • Seminar • Strafe • Urteil |
ISBN-10 | 3-7092-5039-0 / 3709250390 |
ISBN-13 | 978-3-7092-5039-6 / 9783709250396 |
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