Schopenhauer. Eine Einführung -  Dieter Birnbacher

Schopenhauer. Eine Einführung (eBook)

Birnbacher, Dieter - Logik und Ethik - 19696 - 2., erw. und bibliogr. erg. Auflage
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2020 | 1. Auflage
184 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961684-1 (ISBN)
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Nietzsche erklärte ihn zu seinem Lehrer: Arthur Schopenhauer (1788-1860) ist ein Denker des Übergangs, denn kein anderer Philosoph hat mit vergleichbarer Radikalität den optimistischen Grundzug der großen metaphysischen Systeme des Westens durchschaut und als realitätsfremd kritisiert. Vorstellungen wie die, dass 'hinter' der Erfahrungswelt eine Welt vollkommener Ideen, ein gütiger Gott oder die 'reine' Vernunft oder dass in der Geschichte ein Heils- oder Fortschrittsprinzip vorherrscht, tut er als Wunschdenken ab und ersetzt solches durch das ernüchternde Bild des Kreislaufs eines nicht heilbaren Unheils. Die Einführung des Schopenhauer-Spezialisten Dieter Birnbacher wurde für diese Neuauflage komplett durchgesehen und bibliographisch ergänzt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Dieter Birnbacher, geb. 1946, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Düsseldorf.

Dieter Birnbacher, geb. 1946, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Düsseldorf.

Schopenhauer – ein Denker des Übergangs
Schopenhauer – ein Denker der Gegensätze
Anthropologie des Willens: die sekundäre Rolle der Vernunft
"Wille" als allgemeine Dynamik
Schopenhauer als Analytiker I: der Satz vom Grund
Schopenhauer als Analytiker II: Freiheitstheorie
Schopenhauer als Analytiker III: Sprachkritik 103
Leiden und Erlösung vom Leiden
Mitleidsethik

Kommentierte Bibliografie
Schlüsselbegriffe
Zeittafel

[21]Schopenhauer – ein Denker der Gegensätze


Von Ambivalenzen ist Schopenhauers Philosophie nicht nur in ihrem allgemeinen Charakter, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht geprägt. Die auffälligste Ambivalenz ist die zwischen einer idealistischen Tendenz in der Nachfolge Kants und einer realistischen Tendenz in der Nachfolge der französischen Materialisten, etwa d’Holbachs und La Mettries. Nach dem idealistischen Schopenhauer soll die Welt in Raum und Zeit bloße Vorstellung sein, die mit dem Tod des individuellen Subjekts in sich zusammenfällt. Individuen sollen nur so lange unterscheidbar sein, als sie räumlich und zeitlich bestimmt sind. Deshalb gibt es außerhalb der Welt der Vorstellung – und damit des principium individuationis – keine Vielheit. Dennoch aber soll der Mensch seinen physischen Tod in einer bestimmten Weise überleben können, allerdings nicht als Person oder individuelle Seele, sondern als Teil einer hinter der Erscheinungswelt waltenden übergreifenden Einheit. Deshalb der sprachliche Wechsel zum kollektiven »Wir« in dem Satz, der diese Lehre knapp zusammenfasst: »Zu ewiger Fortdauer ist kein Individuum geeignet: es geht im Tode unter. Wir jedoch […] verlieren dabei nichts.« (IX, 292) Dem steht auf der anderen Seite eine robust-realistische, wenn nicht sogar materialistische Sicht der Dinge gegenüber. Insbesondere in seiner späteren Schaffenszeit zeigt sich Schopenhauer – in den Worten Ludwig Feuerbachs – »von der ›Epidemie‹ des Materialismus angesteckt« (Feuerbach 1911, 219 f.). Am deutlichsten wird das in seiner Auffassung der Welt als Produkt der Verarbeitung innerer und äußerer Reize im Gehirn. Unter dem Einfluss der französischen Pioniere der [22]Gehirnphysiologie, insbesondere Pierre-Jean-Georges Cabanis’, fasst Schopenhauer das Gehirn als »Denkorgan« auf und identifiziert es mit dem, was Kant »Verstand« genannt hatte, nämlich dem Vermögen, gegebene Empfindungen zu Anschauungen zu integrieren und durch Kausalbeziehungen in eine gesetzmäßige Ordnung zu bringen. Im Gegensatz zu Kant erklärt Schopenhauer die Operationsweise des Verstands jedoch naturalistisch, nicht transzendental. Die Synthese der Sinnesreize zu Anschauungen von Gegenständen vollzieht sich im Gehirn, während sie bei Kant in einem geheimnisvollen Organ jenseits der Erfahrungswelt erfolgt: »Verstand« ist ein physiologisches Vermögen. Nicht das Bewusstsein verarbeitet die gegebenen Sinnesdaten zu einer artikulierten Anschauung von Gegenständen, sondern das Gehirn. Der Verstand »erschafft« die Welt der materiellen Gegenstände, indem er die empfangenen Sinnesreize kausal interpretiert und aus den Wirkungen die Ursachen erschließt.

Gleichzeitig begibt sich Schopenhauer mit dieser Sichtweise allerdings in ein – unter dem Titel »Gehirnparadox« bereits von Zeitgenossen wie Eduard Zeller (vgl. Spierling 1984, 185) konstatiertes – Dilemma. Die naturalistische Deutung des Verstands verträgt sich nur schwer mit der von Schopenhauer ansonsten hochgehaltenen idealistischen Sichtweise der Natur als einer bloßen Erscheinung. Ein Teil der physischen Welt, das Gehirn, kann unmöglich Erscheinung und zugleich die Quelle aller Erscheinungen sein. Als Quelle aller Erscheinungen kann das Gehirn nicht selbst zur Erscheinungswelt gehören. Als Teil der Erscheinungswelt kann es nicht die Quelle seiner selbst sein. Die Frage nach dem Status des Gehirns wird insofern für [23]Schopenhauer zur metaphysischen Gretchenfrage: »Wie hältst du es mit dem Idealismus?« Aber Schopenhauer gibt auf diese Frage an keiner Stelle eine eindeutige und ausdrückliche Antwort. Seine Philosophie vollzieht sich als ein fortwährender Drahtseilakt zwischen Idealismus und Realismus als sich gegenüberstehenden Polaritäten. Sie lebt mit der Gefahr, immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren und nolens volens ins eine oder ins andere Extrem zu verfallen.

Die Ambivalenz zwischen Idealismus und Realismus lässt sich als Symptom einer tiefer liegenden Spannung zwischen zwei für Schopenhauer charakteristischen Tendenzen sehen, die letztlich in seiner Persönlichkeit wurzeln und paradoxerweise – ähnlich wie bei Spinoza und Wittgenstein – einen Gutteil des besonderen Reizes dieser Philosophie ausmachen: der Spannung zwischen Rationalismus auf der einen und Mystik auf der anderen Seite. Schopenhauer vereinigt in seiner Person das Paradox, zugleich Aufklärer und Stifter einer eigentümlichen, zwischen Christentum und Buddhismus angesiedelten Art von Spiritualität zu sein. So geht er in der Kritik an metaphysisch-theologischen Konstruktionen wie denen eines persönlichen Gottes, einer substanziellen Seele oder einer individuellen Unsterblichkeit noch ein gutes Stück weiter als seine diesbezüglichen Vorbilder Hume und Voltaire. Die Schärfe seiner Kritik an den Kirchenfürsten, die diese Konstruktionen aufrechterhalten zu müssen glauben, um als gute Hirten die ihnen anvertrauten Schäfchen nicht zu verlieren, steht der der französischen Materialisten an Bissigkeit nicht nach. Zugleich jedoch macht Schopenhauer keinen Hehl daraus, dass er sich mit ebenso großer [24]Selbstverständlichkeit den Mystikern Meister Eckhart und Angelus Silesius verbunden fühlt und die Alleinheitslehre der Upanishaden, der »Geheimlehre« der indischen Veden, als eine kongeniale Vorwegnahme seiner eigenen Metaphysik sieht.

Dramatisch wirkt sich diese Ambivalenz insbesondere in Schopenhauers Religionsphilosophie aus. Schopenhauer spart nicht mit positiven Kommentaren zu den Inhalten vieler Religionen und ihrer Fähigkeit, das bedrängte Individuum zu beruhigen und Trost im Leiden zu spenden. Wiederholt macht er auf die großen Übereinstimmungen aufmerksam, die zwischen seiner eigenen Auffassung vom Leben als Leiden und den diesbezüglichen Lehren des Buddhismus und des Christentums bestehen. Beiden Religionen rechnet er hoch an, dass sie sich der Aussöhnung mit den Realitäten des Lebens verweigern und mit dem Bestehenden keine Kompromisse schließen, sondern ihre Hoffnung stattdessen auf eine wie immer geartete Erlösung in einem Reich jenseits von Raum und Zeit setzen. Als »Volksmetaphysik« übernehmen sie für den Normalmenschen darüber hinaus weitgehend dieselben Funktionen, die die Metaphysik für die Gebildeten übernimmt. Sie befriedigen das »metaphysische Bedürfnis« nach Letzterklärung und Sinnfindung, sie heben »den Menschen über sich selbst und das zeitliche Daseyn hinaus«, sie dienen als »unentbehrlicher Trost in den schweren Leiden des Lebens« (III, 195) und als unentbehrliche Motivationsstütze für die Moral (X, 432).

Zugleich leiden die Religionen an einem entscheidenden Makel: Sie sind, wörtlich verstanden, falsch. Sie enthalten zwar einen Kern an metaphysischer und moralischer [25]Wahrheit. Aber sie kleiden diesen Wahrheitskern in das »Gewand der Lüge« (X, 369), indem sie die Menschen glauben machen, die religiösen Bilder und Geschichten, die diese Wahrheit transportieren, seien wortwörtlich wahr. Diese Bilder und Geschichten sind jedoch nicht mehr als Bilder und Geschichten, nämlich Fiktionen, Allegorien und Mythen. Dass sie Fiktionen sind, können sie allerdings nicht offen zugeben, da sie, um ihre Funktionen zu erfüllen, mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten müssen. Nur wenn sie im wörtlichen Sinne verstanden und geglaubt werden, vermögen sie ihre Orientierungsfunktion für einfache Gemüter auszuüben. Die Religionen befinden sich damit in einem Dilemma, dem sie sich nur um den Preis der Selbstaufgabe entziehen können. Sie sind auf Fiktionen angewiesen, die »ihre allegorische Natur nie eingestehen dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr zu behaupten haben« (III, 195).

Dieses Dilemma ist sowohl ein theoretisches als auch ein praktisches – und zu allen Zeiten ein hochpolitisches: Weil die Religionen die fiktive Natur der Gegenstände ihres Glaubens nicht offen eingestehen dürfen, wenn sie nicht ihre Funktion einbüßen wollen, leben sie in chronischem Unfrieden miteinander. Sie schließen sich wechselseitig aus, weil sich ihre jeweiligen Bilder, Mythologien und Allegorien ausschließen, obwohl diese weitgehend dieselben Inhalte haben. Keine Religion kann ihre fundamentale Übereinstimmung mit allen anderen Religionen offen einräumen, da sie ansonsten die Bedeutung der Allegorien, in die sie ihre Inhalte einkleidet, relativieren würde. Religiöse Glaubenssysteme würden sich selbst in Frage stellen, würden sie nicht auf der Gültigkeit ihrer [26]besonderen Allegorien bestehen und alle anderen als ketzerisch oder heidnisch verteufeln.

Die Angewiesenheit der Religionen auf wörtlich verstandene Mythen und Allegorien erklärt nach Schopenhauer auch, warum Philosophie und Wissenschaft die geborenen Feinde der Religion sind, mögen sie in ihren Inhalten ansonsten noch so sehr übereinstimmen. Indem Philosophie und Wissenschaft das Lebenselement der Religionen, das Übernatürliche, in Zweifel ziehen, nehmen sie der Religion genau das, wodurch sie sich von der Philosophie unterscheidet, ihre emotionale Faszination. Der Zauber, mit dem die Religion die Herzen bezwingt, ist nicht ihr metaphysischer oder moralischer Inhalt (hier wäre die Philosophie mindestens ebenso kompetent), vielmehr liegt er gerade in ihren »Widersinnigkeiten« und »Absurditäten«. (III, 194) Nur das Wunderbare und Unglaubliche verschaffen ihr Glaubwürdigkeit. Deshalb ist angesichts einer...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2020
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
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Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Analyse • Auszüge • Bücher Philosophie • Der zureichende Grund • Erkenntniskritik Schopenhauer • Erläuterung • Ethik • Ethik-Unterricht • Geisteswissenschaft • gelb • Grundlagen • Ideengeschichte • Lektüre • Philosophie • Philosophie Schopenhauer • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Philosophischer Pessimismus • Reclam Hefte • Satz vom Grund des Seins • satz vom zureichenden grund • Schopenhauer Freiheitstheorie • Schopenhauer Philosophie • Schopenhauer Sprachkritik • Textanalyse • Textsammlung • Welt als Wille und Vorstellung • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-15-961684-3 / 3159616843
ISBN-13 978-3-15-961684-1 / 9783159616841
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