Die Ordnung der Schmetterlinge (eBook)
286 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7494-2717-8 (ISBN)
Der ärztliche Psychotherapeut Dr. David Usadel ist seit dem fulminanten Erfolg der Erstauflage seines Bestseller-Romans "Die Ordnung der Schmetterlinge" im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus als Experte für Hochsensibilität und frühe seelische Traumata bekannt. Neben der Tätigkeit als Coach/Therapeut und Autor ist er gern gesehener Kongressredner und Podcast-Gast. Die intensive Arbeit mit hochsensiblen Menschen brachte ihn in Kontakt mit dem Thema Entwicklungs-/Bindungstrauma und führte schließlich zu der Erkenntnis, dass diese Bereiche kaum getrennt voneinander betrachtet werden können. Ursprünglich verhaltenstherapeutisch ausgebildet, arbeitet D. Usadel inzwischen überwiegend nach den Prinzipien der körperorientierten Traumatherapie. Im Jahr 2024 erschien die vielfach gewünschte Fortsetzung der "Ordnung der Schmetterlinge" mit dem Titel "Grau ist bunter als oben und unten", in der D. Usadel das Thema früher seelischer Traumata und die damit einhergehende Störung der Selbstregulation behandelt. Zudem geht dort der Frage auf den Grund, wie Hochsensibilität und seelische Traumata miteinander zusammenhängen. www.dr-usadel.de
1
Coco versuchte, die Augen zu öffnen. Ihre Lider fühlten sich unsagbar schwer an. Selbst die kleinste Bewegung kostete sie große Anstrengung.
Was war das für eine ungewohnte Stille? Kein Straßenlärm, keine laut aufgedrehten Fernsehgeräte aus den Nachbarwohnungen. Entfernt glaubte sie, Vogelgezwitscher zu hören.
Hatte sie das alles nur geträumt? Den nicht enden wollenden Dauerlauf durch unbekannte Gegenden der Stadt, die außergewöhnliche, getigerte Katze?
Der Untergrund, auf dem sie lag, war weich. Sie war zugedeckt. Coco tastete nach dem Schulbeutel. Da war nichts. Blinzelnd versuchte sie erneut, die Augen zu öffnen. Helles Sonnenlicht blendete sie, sodass sie den Versuch aufgeben musste. Doch - helles Sonnenlicht? Wie konnte es sein, dass die Sonne in ihr Fenster schien? Zu keiner Jahreszeit war es vorgekommen, dass die Sonnenstrahlen ihr Zimmer erreicht hatten. Und es war kein Fluchen oder Stöhnen des Vaters zu hören. War sie im Himmel? War ihr Wunsch endlich erhört worden? Wenn das der Himmel war, dann war es gut so!
Cocos Kopf schmerzte, die Schläfen pochten. Aber es gab keinen Grund mehr, dagegen anzukämpfen. Wenn sie im Himmel war, dann hatte sie nun keinerlei Eile, keinerlei Verpflichtungen mehr. Niemand würde sie mehr antreiben. Der entfernte Gesang der Vögel wurde leiser. Ruhe überkam Coco. Sie wollte nur noch schlafen. Für immer schlafen.
In dem Dämmerschlaf, in den sie verfiel, erschienen ihr Erinnerungen der vergangenen Tage. Wie Bilder, die aus dem Nichts auftauchten und die ebenso plötzlich wieder verschwanden. So war da plötzlich wieder diese außergewöhnliche Katze.
Wie lange sie wohl schon so dagesessen hatte? Was mochte diese Katze an ihr dermaßen interessant finden, dass sie schon zum zweiten Mal wie versteinert durch das einzige Fenster hineingesehen hatte, um jeder noch so kleinen Bewegung Cocos mit ihrem wachsamen Blick zu folgen?
Coco hatte die Katze ein paar Tage zuvor schon einmal gesehen. Genau wie heute hatte das Tier auf dem durch die Witterung stark beschädigten und teilweise bereits auseinandergefallenen Mauervorsprung gesessen, der die Grenze zum Nachbarhaus bildete und auf den man schaute, wenn man aus dem Fenster blickte. Coco hatte gerätselt, wie die Katze wohl dort hochgekommen sein mochte. Und vor allem hatte sie sich gefragt, was sie veranlasst hatte, sich die Mühe zu machen, ausgerechnet diesen wenig einladenden Ort aufzusuchen.
An diesem Tag war Coco wieder einmal nicht in die Schule gegangen, und sie hatte schon den zweiten Tag krank im Bett verbracht. Ob die Katze Wirklichkeit oder Teil ihrer Fieberträume gewesen war, hätte sie damals nicht mit Sicherheit sagen können. Coco erinnerte sich, wie ihr an diesem Tag zum ersten Mal die außergewöhnlich schöne Zeichnung des Fells aufgefallen war. Das Muster hatte sie an einen Dokumentarfilm denken lassen, den sie einmal teilweise hatte sehen können, nachdem der Vater nach der Übertragung eines Fußballspiels eingeschlafen war und nicht bemerkt hatte, dass Coco vom Flur aus durch den Türspalt die im Anschluss folgende Sendung über einen weißen Tiger verfolgt hatte.
Es war Coco verboten, das Wohnzimmer zu betreten. Es war das Reich des Vaters. Der Fernseher lief ununterbrochen. Von dem Sofa aus, welches mit seiner speckigen Oberfläche an die britische Wachsjacke erinnerte, die Coco einmal auf dem Weg zur Schule in einem Schaufenster gesehen hatte, kommandierte er Coco herum, gab lauthals Anweisungen und, je nachdem wie viel er bereits getrunken hatte, schrie er sie an und beschimpfte sie, genauso ein faules Miststück wie ihre Mutter zu sein. Coco war nie traurig gewesen, dass das Wohnzimmer tabu für sie war. Sie hatte sich stets vor dem Zigarettenrauch geekelt, der die Wände und die Einrichtung des fensterlosen Raumes über die Jahre mit einer klebrigen bräunlichen Schicht überzogen hatte. Und sie hatte schlechte Erinnerungen an dieses Zimmer ...
»Miststück, warum ist nichts zu essen da? Willst du, dass ich hier in diesem Drecksloch verhungere?«, glaubte sie plötzlich, die Stimme des Vaters rufen zu hören. Angespannt und mit klopfendem Herzen versuchte Coco, die Bettdecke zurückzuschlagen, um aus dem Bett aufzuspringen. Doch ihr Körper versagte ihr seinen Dienst. An ein Aufstehen war nicht zu denken. Anders als sonst, wenn sie krank gewesen war, vermochte die Angst vor dem Vater diesmal nicht, ihrem Körper eine letzte Anstrengung abzuverlangen. Doch was würde der Vater mit ihr anstellen? Sie musste aufstehen, sie musste ihm doch gehorchen! Gequält von dem Gedanken, den Groll des Vaters zu verstärken, lag sie nur noch einen kleinen Augenblick reglos da, mit der Absicht, einen weiteren Versuch zu unternehmen, aus dem Bett aufzustehen. Da fiel ihr auf, dass die Schreie und das Fluchen des Vaters verstummt waren. Irritiert lauschte sie, in Erwartung eines weiteren lautstarken Wutausbruches. Doch nichts geschah.
Coco konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie vom Vater zuletzt bei ihrem Namen genannt worden war. Miststück, Taugenichts, sein Repertoire schien unerschöpflich. Wobei Miststück sein Lieblingswort war. Es machte ihr schon lange nichts mehr aus. Das Geschrei war ihr über die Jahre so vertraut geworden, dass sie einmal, das Schlimmste befürchtend, in das verbotene Zimmer gestürzt war, weil der Vater seit Stunden keinen Laut von sich gegeben hatte. So lange er sie nur anschrie und beschimpfte, war alles in Ordnung.
Es gab Schlimmeres als das.
Gott sei Dank hatte er sie lange nicht mehr angefasst. Vielleicht lag es daran, dass ihm in den letzten Wochen sein Gewicht zu schaffen machte und die Beine ihn nicht recht tragen wollten, sodass er das Sofa kaum noch verließ. Den Eimer, der ihm seitdem die Toilette ersetzte, stellte er an die Tür zum Flur, wenn er voll war, damit Coco ihn ausleerte.
Am Tag ihres zweiten Besuches hatte die geheimnisvolle Katze lange vor Cocos Fenster gesessen und Coco angeschaut, als wolle sie etwas von ihr. Ein feines, kaum wahrnehmbares Blinzeln der weit geöffneten Augen war die einzige Reaktion gewesen, die Coco an ihrer Besucherin hatte feststellen können, wenn das Auftreffen eines gegen die Wand geworfenen Gegenstandes für einen heftigen Schlag sorgte.
Der Vater selbst hatte die Wand kurz nach dem Einzug in die Dachwohnung notdürftig errichtet und so aus dem einzigen Raum der Wohnung zwei gemacht, und immer, wenn ihm etwas nicht schnell genug ging oder wenn Coco nicht gleich antwortete, fing er an zu schreien und zu toben und Gegenstände gegen die Wand zu werfen.
Normalerweise ließ Coco sich durch nichts in der Welt stören, wenn sie ihre Hausaufgaben erledigte oder wenn sie sich auf eine Arbeit für die Schule konzentrierte.
Die Schuldirektorin hatte einmal in einer Ansprache nach den Schulferien gesagt, dass man Vater und Mutter unendlich viel zu verdanken habe und dass man ohne sie nicht auf der Welt sei, weshalb man sie immer bedingungslos lieben und achten müsse. Das hatte Coco seitdem auch versucht. Doch wenn sie etwas für die Schule tat, dann durfte sie von dem Gebot der Elternliebe ausnahmsweise absehen, das hatte sie für sich eines Tages entschieden. Denn es war ja für einen guten Zweck, schließlich wollte sie einmal ein anderes Leben führen als dieses hier. Sie machte gerne Hausaufgaben. Es war dann, als sei sie umgeben von einer Art Schutzschild, der alles von ihr abprallen ließ und sie vor jeder Bedrohung zu schützen schien.
Doch an diesem Tag war es etwas anderes gewesen. Die Katze sollte nicht durch die donnernden Schläge aus dem angrenzenden Wohnzimmer eingeschüchtert werden oder gar die Flucht ergreifen! Also hatte Coco alles stehen- und liegengelassen und war durch den schmalen, unbeleuchteten Flur auf den Türspalt zugelaufen, durch den, abgeschwächt durch dichte Rauchschwaden, das vertraute Flimmern des Fernsehers zu sehen war, um vom Vater Geld für das Bier entgegenzunehmen. Wenn die letzte Flasche leer war, dann wurde er immer sehr nervös. Sie war flink in ihre abgetragenen, mit der Zeit etwas eng gewordenen Schuhe geschlüpft, hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und war die fünf Stockwerke hinuntergeeilt zu dem kleinen Geschäft an der Ecke, vorbei an den Müllbergen, die sich seit Wochen im Treppenhaus und im Innenhof türmten, weil die Mehrzahl der Hausbewohner die Gebühr für die Müllabfuhr nicht mehr bezahlt hatte. Schweigend hatte sie fünf Flaschen Bier in den Beutel getan, den sie bei sich trug und dem Verkäufer das Geld in kleinen Münzen abgezählt hingelegt. Der Vater hatte damals, als er noch selbst einkaufen gegangen war, eine Vereinbarung mit dem Mann getroffen, seiner minderjährigen Tochter entgegen der gesetzlichen Vorschrift Alkohol und Zigaretten zu verkaufen, schließlich sei er immer ein guter Kunde gewesen und Gesetze seien doch letztendlich dafür da, dass man sie den Erfordernissen entsprechend anpasse.
Coco war so schnell sie konnte zurück nach Hause gelaufen. Durch einen kräftigen Stoß gegen die kaputte Haustür gab diese nach. Coco konnte sich nicht daran erinnern, dass das Schloss...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Bibliotherapie • Bindungstrauma • Entwicklungstrauma • Hochsensibilität • Lebenshilfe • Meditation • Psychologie • Psychotherapie • Selbstwert • Traumatherapie |
ISBN-10 | 3-7494-2717-8 / 3749427178 |
ISBN-13 | 978-3-7494-2717-8 / 9783749427178 |
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