Erfahrung, die zur Sprache drängt (eBook)

Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht
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2019 | 1., Originalausgabe
333 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76188-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erfahrung, die zur Sprache drängt - Bernhard Waldenfels
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Das Unbewusste, das als Fremdes zur Sprache drängt, steht für Nähe und Ferne zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse. Schlüsselthemen sind der Leib, der Andere, die Zeit, Vergessen, Verdrängen, Übergangsfiguren und Übertragung. Strittig ist der Kontrast zwischen Triebwünschen und Fremdansprüchen, der Umschlag von Fremdheit in Feindschaft. Als Kulturanalyse greift die Psychoanalyse über auf Kunst, Religion und Interkulturalität. Fluchtpunkt ist eine responsive Therapie mit dem Leitmotiv der Sorge. Neben Husserl und Freud spielen Goldstein, Merleau-Ponty, Levinas, Lacan, Laplanche, Klein, Winnicott sowie neuere Debatten der Psychoanalyse eine zentrale Rolle in Bernhard Waldenfels' neuem Buch.



<p>Bernhard Waldenfels, geboren 1934 in Essen, ist Professor emeritus f&uuml;r Philosophie an der Ruhr-Universit&auml;t Bochum. F&uuml;r sein Werk wurde er u. a. mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis und dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis ausgezeichnet.</p>

Bernhard Waldenfels, geboren 1934 in Essen, ist Professor emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.

9Vorwort


»Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist.« (Husserl, Cartesianische Meditationen)

»Das Es […] kann nicht sagen, was es will.« (Freud, Das Ich und das Es)

Anreiz und Anstoß für die folgenden Untersuchungen bilden Herausforderungen, die in erster Linie von der Psychoanalyse ausgehen, aber von da aus auf die weiteren Gebiete der Psychopathologie, der Psychiatrie und der Medizin als einer allgemeinen Heilkunde übergreifen. Philosophische Antworten auf solche Herausforderungen werden in einer Phänomenologie gesucht, die in der Beschreibung und Auslegung der Erfahrung Gestalt annimmt und dabei auf die Unzugänglichkeit von Fremdem stößt. Die wechselseitige Annäherung und Auseinandersetzung, um die es uns geht, wird dadurch erschwert, daß klinische Praxis, psychodynamische Forschung und philosophisches Nachdenken nicht in einem homogenen Raum, sondern auf verschiedenen Ebenen agieren. Doch dies schließt thematische und selbst methodische Überschneidungen nicht aus. Abgesehen davon hat der wechselseitige Austausch eine beachtliche Vorgeschichte, die es mit sich bringt, daß sowohl Psychoanalyse wie Phänomenologie im pluralen Gewande verschiedener Spielarten auftreten. Diese Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen. Die folgenden Studien versprechen denn auch keine Bestandsaufnahme, sondern Suchaktionen und gezielte Eingriffe.

Der gemeinsame Grundton der Erfahrung


Auf welche Weise lassen sich zwei so heterogene und vielschichtige Unternehmungen wie Phänomenologie und Psychoanalyse aufeinander einstimmen, ohne daß sie ihre Eigenart preisgeben? Die vorangestellten Mottos deuten auf Gemeinsames hin, das über die Maximen eines allgemeinen wissenschaftlichen Ethos hinausgeht. Für beide Ansätze gilt: Es gibt Verschwiegenes, das zur Sprache 10drängt, aber nicht schon von Grund auf in ihr beheimatet ist. Die Worte der Sprache sind Worte, die aus der Fremde kommen und deshalb nie ganz heimisch werden. Was sich in der Erfahrung zeigt, ruft nach einem Sinn, den es nicht vorweg schon hat und der den Widerständen des Nicht-Sinns abzuringen ist. Husserls Phänomenologie und Freuds Psychoanalyse bewegen sich gleichermaßen auf einer Schwelle, die Eigenes von Fremdem trennt und es zugleich an Fremdes bindet.

Doch kaum zieht man die Kontexte der eingangs zitierten Stellen in Betracht, schon sieht man, wie sich die Wege teilen. Bei Husserl geht es solchermaßen weiter: »Die wirklich erste Aussprache ist die Cartesianische des ego cogito.« (Hua I, 77) Also Cartesianismus? Vorsicht, bevor wir uns an Schranken der Egozentrik oder der Egologie ausrichten, sollten wir die Stolpersteine beachten, die Husserl sich selbst in den Weg legt. Das Cogito ist nichts ohne das cogitatum, es ist nichts ohne sein Anderes, von dem es sich in seiner Intentionalität abhängig macht. Und was das Ego betrifft, so beherrscht es nicht die Sprache, es kommt seinerseits zur Sprache; es spricht sotto voce zu sich selbst und über sich selbst, indem es Andere anspricht und Anderes bespricht, indem es von Anderen angesprochen und von Anderem angerührt wird. Dabei ist, sprachlogisch betrachtet, das performative Ich des Aussagens niemals identisch mit dem prädikativen Ich der Aussage. So stellt Jacques Lacan uns permanent vor die Frage: »Wer spricht?« Das qui parle ist mehr als eine Fangfrage, dahinter steht die Urfrage nach der maßgeblichen Instanz des Sprechens. Mit dem Versuch, Ungesagtes zur Sprache zu bringen und darüber hinaus Unsichtbares sichtbar, Unhörbares hörbar, Unauffälliges spürbar zu machen, beginnt das Abenteuer des sprachlichen und sinnlichen Ausdrucks, das die Bild- und Tonsprache ebenso einschließt wie die Körpersprache und die Sprache der Dinge. Wechseln wir über zu Freud, so geht es an der zitierten Stelle wie folgt weiter: Das Es hat »keinen einheitlichen Willen zustande gebracht. Eros und Todestrieb kämpfen in ihm« (Das Ich und das Es, GW XIII, 289). Das Es drängt sich vor, drängt sich uns auf, und dies gilt auch für das »es denkt«, das schon von Lichtenberg mit einem »es blitzt« verglichen wird. Das Ich wird kleinlaut, es ist ein Ich im Werden. Bei Husserl wird daraus ein Vor-Ich, das sich schon vorwagt, wenn »es raschelt«. Phänomenologen und Analytiker bewegen sich auf verschiedenem, aber nicht völlig ver11schiedenem Gelände. Es meldet sich ein gemeinsamer Grundton, wenn man nur genau hinhört. Aber es findet sich nicht leicht eine geeignete Stimmgabel.

Husserl und Freud als Initiatoren


Besinnen wir uns auf die Anfänge von Phänomenologie und Psychoanalyse, so stoßen wir auf zwei Gründerfiguren, die lebenslang kaum voneinander Notiz nahmen – und dies, obwohl sie nahezu gleichzeitig im österreichischen Mähren geboren wurden, Husserl 1859 in Proßnitz/Prostějov, Freud 1856 in Freiberg/Přibor; obwohl beide in den 70er und 80er Jahren die Wiener Lehrveranstaltungen des Philosophen Franz Brentano besuchten; obwohl beide genau um die Jahrhundertwende mit so grundlegenden Werken wie den Logischen Untersuchungen und der Traumdeutung an die zunächst wenig geneigte Öffentlichkeit traten; obwohl ihnen, nach langen Jahren der Forschung, als jüdischstämmigen Wissenschaftlern am Ende ähnliches widerfuhr, da der eine sein Freiburger Haus und seine Universität räumen mußte, der andere aus seiner Wiener Arbeitsstätte ins Ausland vertrieben wurde. Dazu paßt, daß die Gesamtausgabe ihrer Werke im Ausland, einerseits in Den Haag, andererseits in London, ihren Ausgang nahm. Hinzuzufügen ist, daß beide Forscher sich, im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen – im Falle Husserls auch im Gegensatz zu engsten Mitarbeitern, im Falle Freuds im Gegensatz zu anpassungsbereiten Weggenossen – mit Entschiedenheit sowohl einer lebensphilosophischen Aufweichung wie einer nationalen Aufheizung und totalitären Verkehrung der Vernunft in den Weg stellten. Phänomenologie und Psychoanalyse, »sie scheinen sich zu fliehen«, doch in vielem finden sie sich. Diese Konstellation, in der Nähe sich mit Ferne paart, bietet Anlaß, mit Walter Benjamin über eine latente Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit nachzudenken, die alles in allem eher die Regel sein dürfte als eine Ausnahme. Was unter der Hand geschieht, entzieht sich der bewußten Planung und wird erst nachträglich im offiziellen Kalendarium verzeichnet, nicht selten auch ver-zeichnet. Die Erwartung, daß die Menschen einst »ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen«, beruht auf fragwürdigen Hochrechnungen der Geschichte. Die mangelnde Synchronie, der wir 12hier wie auch sonst begegnen, schließt keineswegs die Möglichkeit aus, verpaßte Gespräche nachzuholen, ja, sie ermuntert uns erst recht dazu.

Von Gründungen oder Stiftungen sprechen wir, wenn außerordentliche Ereignisse als eine Art historische Wasserscheide fungieren: danach fühlt, sieht, denkt, spricht es sich anders als zuvor, ohne daß messerscharfe Grenzen zu ziehen wären. Es sind Ereignisse, die »sich nicht vergessen«, wie Kant der französischen Revolution nachsagte. Als Diskursbegründer oder Diskursstifter, denen laut Foucault auch Freud zuzuzählen ist (2001, S. 1022), gelten jene, deren Wirken und Nachwirken in besonderem Maße dazu beiträgt, die Grenzen des Sagbaren, Denkbaren und Machbaren zu verrücken. Sie finden ihren Ort oder besser gesagt: ihren Nicht-Ort in Übergangszonen. Sie finden ihre Zeit in den Winkeln eines Langzeitgedächtnisses, das im Stillen weiterarbeitet, abseits einer monumentalischen Geschichtlichkeit, der wir spätestens seit Nietzsche zu mißtrauen gelernt haben.

Phänomenologische und psychoanalytische Bewegung


In den folgenden Untersuchungen soll es weniger darum gehen, herauszufinden, wer Husserl oder Freud waren, in welchem sozialen Umfeld und unter welchen Umständen ihr...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Dr. Leopold Lucas-Preis 2021 • Leib • Phänomenologie • Psychoanalyse • Psychotherapie • Sigmund-Freud-Kulturpreis 2017 • STW 2283 • STW2283 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2283 • Unbewusste
ISBN-10 3-518-76188-9 / 3518761889
ISBN-13 978-3-518-76188-5 / 9783518761885
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