Der Staat der Historiker (eBook)

Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945
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2018 | 1., Originalausgabe
371 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75975-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Staat der Historiker - Gabriele Metzler
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Die Bundesrepublik entwickelte sich im Laufe ihres Bestehens zu einem liberalen Rechts- und Sozialstaat nach westlichem Muster. Historiker trugen dazu bei, indem sie Orientierungswissen lieferten und als public intellectuals diese Entwicklung kritisch begleiteten. Sie erinnerten, imaginierten und kritisierten spezifische Staatsvorstellungen beziehungsweise reflektierten die Krisen von Rechts- und Sozialstaatlichkeit seit den 1970er Jahren. Und auch heute sind Historiker an der Neukonzeption von Staatlichkeit im Kontext von Globalisierung und europäischer Integration beteiligt. Gabriele Metzler erzählt eine Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis heute durch das Prisma ihrer zeithistorischen Erforschung.



<p>Gabriele Metzler ist Professorin f&uuml;r die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt- Universit&auml;t zu Berlin.</p>

Gabriele Metzler ist Professorin für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt- Universität zu Berlin.

9Einleitung


Die Bundesrepublik entwickelte sich seit ihrer Gründung zu einem modernen, westlich geprägten Staatswesen, das Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit in sich vereinte. Das war keine selbstverständliche Entwicklung – manche haben gar von einem »Demokratiewunder« geschrieben[1] –, und es war auch keine, die schon mit der Staatsgründung von 1949 abgeschlossen gewesen wäre. Vielmehr brauchte es rund zwei Jahrzehnte, bis ein historisch-politischer Lernprozess in Westdeutschland wirklich Wurzeln geschlagen hatte, ein Lernprozess, in dessen Verlauf die Westdeutschen sich ein neues Verständnis von Demokratie, Freiheit und Staat aneignen mussten. Traditionell war das deutsche Staatsdenken seit dem 19. Jahrhundert hegelianisch geprägt gewesen, der Staat galt weithin als getrennt von der Gesellschaft, als ihr übergeordnetes, vorgeordnetes sittliches Prinzip: als die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«.[2] Zudem hatte spätestens mit dem Neohistorismus die Nation bzw. der Nationalstaat sich als Fluchtpunkt historischen Denkens fest etabliert. Dieses Koordinatensystem war nach 1945 unwiderruflich zerbrochen. Die deutsche Nation gab es in Zeiten der Teilung nicht mehr, und das deutsche Staatsdenken sah sich unter den Umständen des Kalten Kriegs und der kulturellen Hegemonie der USA ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Die Westdeutschen lernten, sich in einer von anglo-amerikanischen Staatsvorstellungen geprägten politischen Ordnung einzurichten; sie lernten, soziale Konflikte als ›normal‹ anzuerkennen und das »Gemeinwohl« als Ergebnis eines deliberativen Prozesses zu begreifen und nicht als etwas, das von vornherein bestand und ›nur‹ erkannt zu werden brauchte. Sie erfuhren aber auch, dass der Staat umstritten, überfordert oder in seiner Bedeutung in Frage gestellt wurde. Wie Zeithistoriker an diesem Lernprozess teilhatten, wie sie 10ihn mit vorantrieben, wie sie ihrerseits aber auch aufnehmend an ihm teilnahmen, davon soll dieser Essay handeln.

Die Staatsvorstellungen von Zeithistorikern sind gleich aus mehreren Gründen spannende und lohnende Gegenstände historischen Fragens: Erstens bilden (Zeit-)Historiker eine Deutungselite, die Geschichtsbewusstsein sowie historisches Denken in der Gesellschaft maßgeblich prägt und auf diese Weise immer auch zur historischen Legitimation – oder Delegitimation – des Gemeinwesens beiträgt. Denn jedes politische Gemeinwesen benötigt auch historisch begründete Legitimation, soll es auf Dauer gestellt werden und nicht bloß für eine Übergangssituation existieren. Für den jungen westdeutschen Staat galt dies in ganz besonderem Maße, denn seine Gründung 1949 brach mit der nationalstaatlichen Tradition. Der Staatsaufbau hatte zuallererst den Katastrophen des »Zeitalters der Extreme« (E. Hobsbawm) Rechnung zu tragen. Der Erste Weltkrieg, das Scheitern der Demokratie 1933, die NS-Diktatur und die Massenvernichtung, der »totale Krieg« sowie die totale Niederlage von 1945 bildeten Erfahrungsbestände, die in den Aufbau des neuen Staates unmittelbar einflossen. Der anbrechende Kalte Krieg setzte schließlich den Rahmen, der die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmte. Wie Zeithistoriker diese Erfahrungen zu historischem Wissen umformten – auch ihre eigenen persönlichen Erfahrungen –, ist aufregend zu beobachten und steht zugleich exemplarisch für eine ganze Gesellschaft, die sich in einer neuen Welt einzurichten hatte.

Zweitens ist das Thema aus historiographie- und wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel von Interesse. Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftliche Subdisziplin institutionalisierte sich in Deutschland erst nach 1945, also zu genau der Zeit, als (Zeit-)Historiker als Deutungselite besonders gefragt waren. Innerwissenschaftlich galt es lange Zeit keineswegs als ausgemacht, dass man Zeitgeschichte als gegenwartsnahe Geschichte nach wissenschaftlichem Maßstab überhaupt betreiben konnte. Wie sollte es denn möglich sein, so ließe sich mit Ranke fragen, »sein Selbst gleichsam auszulöschen«, um zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«?[3] War 11dies schon zu Rankes Zeiten eher als Wunsch und Postulat denn als Beschreibung tatsächlichen historischen Arbeitens formuliert gewesen, so musste dies umso schwieriger oder gar unmöglich erscheinen, wenn es um die wissenschaftliche Erforschung der »Epoche der Mitlebenden«[4] ging. Weil sie in der Gegenwart verwurzelt waren, deren unmittelbare Vorgeschichte sie selbst miterlebt hatten, so der Vorwurf, konnten Zeithistoriker gar nicht wissenschaftlich arbeiten. Wir haben es also immer auch mit Kämpfen um Selbstbehauptung einer jungen Disziplin zu tun, die heute ganz selbstverständlich in den Geschichtswissenschaften verankert ist, wenn sie nicht gar den Ton angibt. Zeithistoriker waren im Übrigen keinesfalls allein, wenn es um Deutungen der jüngeren Vergangenheit und der Entwicklungsperspektiven des neuen Staates ging: Staatsrechtslehre, Soziologie und vor allem die neu begründete Politikwissenschaft[5] erwiesen sich bald als harte Konkurrenten um die Deutungshoheit. Teils wurden sie von den Historikern rezipiert, teils schrieben die Politologen selbst Studien, die wir heute als »zeithistorisch« kategorisieren würden (etwa: Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis, Hans Peter Schwarz, Arnulf Baring).

Wer sich mit der Geschichte der ›Zeitgeschichte‹ als historischer Subdisziplin nach 1945 befasst, kann auf eine ganze Reihe substantieller Studien zurückgreifen. Gerade in den letzten Jahren erlebte die Historiographiegeschichte nach 1945 einen veritablen Boom, der meinem Nachdenken über das Verhältnis von Historikern und Staat sehr zugutegekommen ist.[6] Merkwürdige – im Wortsinne – 12Kontinuitäten haben diese Studien zutage befördert, gerade auch im Hinblick auf das Innovationspotential einer NS-affinen (jedoch nicht nationalsozialistischen) Geschichtswissenschaft. Auch mit der frühen zeithistorischen NS-Forschung in der Bundesrepublik geht die aktuelle zeithistorische Forschung hart ins Gericht.[7] Für die Frage nach den geschichtspolitischen Dimensionen zeithistorischer Debatten verfügen wir ebenfalls über substantielle Arbeiten.[8] Profitieren kann diese kleine Studie auch von Arbeiten, die zur Geschichte der Staatsvorstellungen in den Nachbardisziplinen erschienen sind, insbesondere zum Wandel der Staatsrechtslehre.[9] Als gleichermaßen instruktiv erwiesen sich Studien zu den Veränderungen der Gesellschaftsvorstellungen und -theorie.[10]

So erfreulich die Literatur zur Historiographiegeschichte der 1930er bis zu den frühen 1960er Jahren angewachsen ist, so misslich ist die Forschungssituation für die späteren Dekaden. Aus den Quellen gearbeitete Monografien etwa zur Geschichte der neomarxistischen Geschichtsschreibung, zur Alltagsgeschichte oder, erst recht, zur Geschichte der feministischen Zeitgeschichte stellen Desiderate der Forschung dar.

Dieses Buch zielt auf eine Historiographiegeschichte in gesellschaftsgeschichtlicher Absicht. Es handelt von Debatten in der historischen Subdisziplin Zeitgeschichte – und zugleich immer auch von der Geschichte der westdeutschen Gesellschaft, der inneren und internationalen Politik, der Kultur. Das kann jeweils nur knapp umrissen werden, anders wäre ein Handbuch und kein Essay entstanden. Aber ich will doch zeigen, dass historisches Räsonnement und gesellschaftlich-kultureller Wandel in einer Wechselwirkung miteinander standen; dass das zeithistorische Argument, die Diskussion eines zeithistorischen Themas immer auch einen Beitrag leisteten zu tagespolitischen Auseinandersetzungen, 13wenn nicht gar zu politischen Grundsatzdebatten. Und umgekehrt wirkten gesellschaftliche Veränderungen auf die Wissenschaft zurück – wie konnte es auch anders sein in Zeiten, in denen sich die traditionelle deutsche Universität grundlegend wandelte, öffentlich kritische Fragen formuliert wurden, Formen des Politischen sich veränderten?

Zeithistoriker schreiben selten »Staatsvorstellung«, wenn sie »Staatsvorstellung« meinen. Aufsätze oder gar Monografien der hier behandelten Zeithistoriker zum Thema »Wie ich mir den Staat vorstelle« sind nicht überliefert, gelegentlich finden wir immerhin explizite tagespolitische...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Bundesrepublik • Historikerin • Staat • STW 2269 • STW2269 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2269 • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-518-75975-2 / 3518759752
ISBN-13 978-3-518-75975-2 / 9783518759752
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