Die Totengräber (eBook)
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490545-7 (ISBN)
Rüdiger Barth, geboren 1972 in Saarbrücken, hat in Tübingen Zeitgeschichte und Allgemeine Rhetorik studiert. Er arbeitete 15 Jahre lang für das Magazin »Stern«, lebt als Autor in Hamburg und ist Mitgründer der »Looping Studios«.
Rüdiger Barth, geboren 1972 in Saarbrücken, hat in Tübingen Zeitgeschichte und Allgemeine Rhetorik studiert. Er arbeitete 15 Jahre lang für das Magazin »Stern«, lebt als Autor in Hamburg und ist Mitgründer der »Looping Studios«. Hauke Friederichs, geboren 1980 in Hamburg, hat in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg promoviert, dazu Kriminologie, Politologie und Journalistik studiert. Er schreibt u.a. für »Die Zeit« und »Geo Epoche«.
Ein ungewöhnliches, ein wichtiges Buch, dessen Recherchetiefe nach Luft schnappen lässt.
ein Geschehen, das wir bisher nur aus Schul- und Geschichtsbüchern kannten, [bekommt] auf einmal glühende Farben.
Für die Leser entsteht eine fast dokumentarische Geschichte, die eindrücklich das skrupellose Ringen um Macht vor Augen führt.
Die zahllosen Quellen bieten [...] ein breites Panoptikum der damaligen Verhältnisse, vor allem in Berlin.
brillant geschrieben: faktenreich und kurzweilig, abwechslungsreich und unterhaltsam.
ein spannendes Stück Geschichte, das oft bedrohlich aktuell wirkt und selten so nah an der Lebenswirklichkeit erzählt wurde.
Der Sturz
17. November bis 1. Dezember 1932
Donnerstag, 17. November
Der Reichskanzler vor dem Sturz!
Heute fällt die Entscheidung
Der Angriff
Papen bietet Demission an
Rücktritt des Gesamtkabinetts? – Heute Vortrag bei Hindenburg
Vossische Zeitung
Regiert wird das Deutsche Reich von Preußen aus, von der Hauptstadt Berlin. In Wahrheit konzentriert sich die Macht nur auf eine Handvoll nebeneinanderliegender Häuserblocks. Man nennt dieses kleine Areal nach der Straße, an die es angrenzt, die »Wilhelmstraße«.
Wenn man den Reichstag verlässt, unter dem Brandenburger Tor hindurchläuft und hinter dem Hotel Adlon am Pariser Platz nach rechts biegt, hat man die Straße schon erreicht. Man passiert die britische Botschaft und das Landwirtschaftsministerium, dann kommt zur Rechten das Ensemble der Palais in den Blick, aus dem der Anbau der Reichskanzlei hervorsticht, errichtet vor einem Jahr, verkleidet mit Travertin.
Von der Straße sehen die Fassaden abweisend aus, aber dahinter erstrecken sich alte, große Gärten. Unterirdische Gänge führen auf der westlichen Seite der Wilhelmstraße von Gebäude zu Gebäude, auch über die Dachböden soll ein geheimer Weg verlaufen. Die Gärten sind durch Tore miteinander verbunden, die gerne für heimliche Besuche genutzt werden.
Die Kabinettssitzung, in der es für Regierungschef Franz von Papen um seine Karriere geht und in der General Kurt von Schleicher aus den Schatten treten wird, findet, soweit wir wissen, im Gartensaal der Reichskanzlei statt. In den hellen Monaten ist dies dank der bodentiefen Fenster, die nach Westen zeigen, ein lichtdurchfluteter Raum. Ein sonniger, frischer Herbsttag ist angebrochen. An den Eichen, Ulmen und Linden hängt leuchtend das Laub, es sind Bäume darunter, die wohl schon hoch gewachsen waren, als Friedrich der Große hier spazieren ging.
Auf den hinteren Mauern, zur Friedrich-Ebert-Straße hin, wachen noch immer die Terrakotta-Adler des königlichen Preußens, auf den Häuptern vergoldete Bronzekronen. In diesem Häuserensemble hat Otto von Bismarck, der erste Kanzler des Deutschen Reiches, achtundzwanzig Jahre lang gelebt. Irgendwo in diesen Gärten, so erzählen es sich die Kinder der Bediensteten, die oft hier spielen, soll eine seiner treuen Doggen begraben liegen, und auch der Trakehnerhengst, der ihn 1866 über die Felder von Königgrätz getragen hat. An dieser Schlacht hat als Achtzehnjähriger auch Paul von Hindenburg teilgenommen, als Leutnant des 3. preußischen Garderegiments zu Fuß.
Heute ist Hindenburg fünfundachtzig Jahre alt und der wichtigste Mann Deutschlands. Im Weltkrieg war er der siegreiche Befehlshaber der Kesselschlacht von Tannenberg, später Chef der Obersten Heeresleitung, noch immer zehrt er von diesem Ruhm. Sein mächtiger Schnurrbart, die tiefen Falten um den Mund, die stahlfarbenen Bürstenhaare – er sieht in ruhigen Momenten aus wie ein Denkmal seiner selbst. Seit 1925 ist er der Reichspräsident, um dessen Wohlwollen alle buhlen. Um ihn, den Greis.
Auch die Minister und Staatssekretäre, die sich an diesem Morgen im Gartensaal versammeln.
Seit gestern streift der amerikanische Gewerkschaftsfunktionär Abraham Plotkin durch Paris. Er ist mit dem Frachtschiff von New York nach Le Havre gereist, als einer von fünf Passagieren, ohne jeden Komfort, eine bescheidene Anreise, wie er es mag. Und wie es sein Geldbeutel erlaubt. Er ist vierzig Jahre alt. Zu Hause hat er seine Anstellung bei der Textilgewerkschaft verloren – die Wirtschaftskrise.
Als er ein Junge war, wanderte seine Familie aus dem zaristischen Russland nach Amerika aus. Nun kehrt Plotkin nach Europa zurück, mit wenig mehr als der Kleidung, die er am Leib trägt, seinem Gehstock und seiner Schreibmaschine.
Kurz nach seiner Abreise hat er ein Tagebuch begonnen. Plotkin ist wissensdurstig und wortgewandt und hat einen Blick für die Lage der einfachen Menschen. Aber Frankreich ist nicht der Grund, warum er nach Europa gekommen ist. In vier Tagen wird er weiterfahren.
Sein Ziel liegt in Deutschland, wo er den Kampf der einfachen Leute miterleben will, die für ihre Rechte streiten. Er hat gehört, dass sich auf den Straßen Berlins Linksradikale und Rechtsradikale prügeln, dass es Tote gegeben hat. Die Hauptstadt zieht ihn magisch an. Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« hat er aufgesogen, und jetzt will er in das Milieu eintauchen, das der Schriftsteller so eindrucksvoll geschildert hat. Er will Huren treffen, Krämer, Bettler und Ganoven. Er will sich die Nationalsozialisten anschauen, von denen alle sprechen, halb bang, halb gebannt. Es heißt, die Reden des Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast seien in ihrer mitreißenden Suggestionskraft mit nichts vergleichbar. Für andere Touristen mag der November nicht die beste Reisezeit sein, um Berlin zu erkunden, der Monat, in dem gewöhnlich mit Macht der Winter über die Stadt kommt.
Plotkin kümmert das nicht. Er möchte von den Deutschen lernen.
Der mit seinen fünfzig Jahren langsam etwas füllig werdende Wehrminister Kurt von Schleicher trifft im Gartensaal ein. Auf Fotos wirkt er linkisch, sein Lächeln steif, aber meist blitzen seine Augen. Viele, die ihm zum ersten Mal begegnen, sind weniger von seinem Aussehen beeindruckt als vielmehr von seiner lebhaften Persönlichkeit. Kahl ist sein Haupt schon länger, groß ist er auch nicht, dennoch hat er Schlag bei den Frauen. Wer Schleicher nicht wohlgesonnen ist, erzählt Geschichten über seine wechselnden Liebschaften. Dass er verheirateten Frauen Blumenbouquets schicke, darunter Ehefrauen einflussreicher Männer. Dass er sich so Feinde fürs Leben schaffe.
In der Wilhelmstraße hatte er sich einen Ruf als eingefleischter Junggeselle erworben, der die Vorzüge des ungebundenen Lebens durchaus zu genießen wisse. Bis er im Juli 1931 Elisabeth von Hennigs heiratete, die Tochter eines Kavallerie-Generals. Eine Frau aus einer Soldatenfamilie.
Kurt von Schleicher entstammt ebenfalls einer Soldatenfamilie. Sein Urgroßvater starb 1815 in der Schlacht von Ligny, zwei Tage vor Waterloo, beim Sturmangriff auf Napoleons Truppen. Auch Kurts Vater wurde Soldat, zuletzt war er Oberstleutnant.
Wie Reichspräsident Hindenburg hat Kurt von Schleicher die militärische Laufbahn im 3. Garderegiment zu Fuß begonnen, und dort lernte er nach der Jahrhundertwende auch Hindenburgs Sohn Oskar kennen, mittlerweile dessen Adjutant, sowie Kurt von Hammerstein-Equord, den heutigen Chef der Heeresleitung.
Im Weltkrieg machte Schleicher rasch Karriere. Er diente seit 1914 in verschiedenen Stäben, organisierte, plante, lenkte und lernte Generäle kennen, die ihn schätzten und förderten. Generalmajor Wilhelm Groener wurde zu seinem Mentor, ein väterlicher Freund, der Schleicher machen ließ, auch jenseits der Befehlsketten. Zum Ende des großen Krieges war Schleicher schließlich Paul von Hindenburg zu Diensten, dem damaligen Chef der Obersten Heeresleitung. Der Kontakt riss auch danach nicht ab.
Fortan arbeitete der Offizier in der schlecht ausgeleuchteten Sphäre, in der Politik und Militär aufeinandertreffen. Schleicher war Chef des Ministeramts, der oberste Strippenzieher. Er traf die Spitzen der Parteien und knüpfte enge persönliche Bande – auch zu Reichspräsident Friedrich Ebert, dem Sozialdemokraten. Die von ihm aufgebaute »Wehrmachtsabteilung« im Ministerium unterstand direkt seinen Anweisungen: Dort wurde die Politik der Reichswehr gemacht – und wird es bis heute.
Als Wehrminister arbeitet Kurt von Schleicher oft bis in die Nacht, er schläft wenig und reitet schon bei Tagesanbruch eine Stunde durch den Tiergarten. Man sieht ihm sein Pensum trotzdem kaum an. Er redet stets eindringlich, mit Charme, mit Chuzpe, wie es ihm passt, ein Meister der kleinen Runden.
Kein deutscher Staatsbürger hat Kurt von Schleicher je in einer Wahl seine Stimme geben können. Dennoch war er es, der Hindenburg im Sommer dieses Jahres den Namen des Kanzlers Franz von Papen eingeflüstert hat, daran hegt wohl niemand Zweifel.
Am heutigen Morgen ist er pünktlich im Gartensaal zur Kabinettsitzung um elf Uhr erschienen.
Kanzler Franz von Papen, dreiundfünfzig Jahre alt, der Hausherr, trifft ein paar Minuten später ein. Er setzt sich, so erzählen es Beteiligte, an die Mitte des Tisches, gegenüber den hohen Fenstern, so dass er den Blick in den Garten schweifen lassen kann. Zu seiner Linken nimmt Schleicher Platz, sein Freund, dem er den überraschenden Karrieresprung vor sechs Monaten verdankt. Sechs Monate, in denen Papen Schleicher als wichtigsten Ratgeber des Präsidenten abgelöst hat. Sechs Monate können lang genug sein, um aus Freunden Gegner zu machen.
Nur ein paar Schritte weiter brütet Präsident Paul von Hindenburg in seinem Büro über den Papieren. Der große Bismarck, der Einiger des Deutschen Reiches, hatte es fürwahr nicht so schwer wie er. Die Deutschen sind in der Krise völlig zerstritten, die Parteien, die sie wählen, rangeln um die Macht, und die innere Einheit des Volkes ist in höchster Gefahr. Außer ihm ist da niemand mehr, hinter dem sich eine Mehrheit der Deutschen versammelt. Nur Paul von Hindenburg kann Deutschland retten.
Anfang Juni dieses Jahres ist er aus dem renovierungsbedürftigen Reichspräsidentenpalais ausgezogen, in dem die Möbel schon mit Stützklötzen...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Abraham Plotkin • Adolf Hitler • Alfred Hugenberg • Bella Fromm • Berlin • Carl Schmitt • Carl von Ossietzky • Diktatur • DNVP • Dorothy Thompson • Ernst Hanfstaengl • Franz von Papen • Gewerkschaften • Gregor Strasser • Harry Graf Kessler • Hermann Göring • Joseph Goebbels • Kaiserhof • Kommunisten • Kurt von Schleicher • Machtergreifung • Magda Goebbels • Nationalsozialismus • notverordnungen • NSDAP • Parteien • Paul von Hindenburg • Planspiel Ott • Preußen • Reichstag • Reichstagsauflösung • Sozialdemokraten • SPD • Weimarer Republik • Wilhelmstraße |
ISBN-10 | 3-10-490545-2 / 3104905452 |
ISBN-13 | 978-3-10-490545-7 / 9783104905457 |
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