Schmerz (eBook)

Eine Befreiungsgeschichte
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
608 Seiten
Pattloch Verlag
978-3-629-32079-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schmerz -  Harro Albrecht
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'Chronischer Schmerz kann jeden treffen. Am besten, man liest das Buch, bevor der Schmerz beginnt.' Deutschlandfunk In Deutschland leiden 16 Millionen Menschen unter andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen. Die herkömmlichen Schmerztherapien erweisen sich zunehmend als Sackgasse. Pharmazie, Medizin und Forschung treten auf der Stelle, neue Schmerzmittel sind nicht in Sicht, und unter den Patienten wächst die Verzweiflung. Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Harro Albrecht hat weltweit recherchiert und erzählt vom langen Kampf gegen diese menschliche Urerfahrung - von Fortschritten, Fehlschlägen und immer noch ungelösten Fragen. Seine Erkenntnisse machen Mut: Linderung ist möglich, wenn wir lernen, anders mit Schmerzen umzugehen. 'Albrechts Argumentation ist klar und seine Befreiung von vielen Schmerzirrtümern erhellend.' Psychologie heute

Dr. med. Harro Albrecht, Jahrgang 1961, war zunächst Wissenschaftsredakteur beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Seit 15 Jahren ist er als Medizinredakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT tätig. Als Stipendiat der Nieman Foundation studierte er ein Jahr Public Health an der Harvard University und ging danach für Recherchen nach Afrika und Indien.

Dr. med. Harro Albrecht, Jahrgang 1961, war zunächst Wissenschaftsredakteur beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Seit 15 Jahren ist er als Medizinredakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT tätig. Als Stipendiat der Nieman Foundation studierte er ein Jahr Public Health an der Harvard University und ging danach für Recherchen nach Afrika und Indien.

Making-of


Keine Macht dem Schmerz

Am Anfang steht ein Geständnis. Ich bin Arzt, Herzpatient und seit zwanzig Jahren Medizinjournalist, aber bevor ich dieses Buch schrieb, wusste ich nahezu nichts über eine der wichtigsten Herausforderungen der Medizin: den Schmerz. Vor den Recherchen war Schmerz lediglich ein Symptom für mich, ein Indiz für eine körperliche Entgleisung. Im besten Fall findet sich eine Ursache, die sich abstellen lässt, und bis dahin helfen sogenannte Analgetika, Schmerzmittel, einigermaßen effektiv.

Doch so einfach ist es nicht, und das hätte ich bei genauer Betrachtung wissen können. Denn ich kam mit einem Herzklappenfehler zur Welt und musste mich in Hamburg und in London mit acht, vierundzwanzig und zuletzt mit vierundvierzig Jahren jeweils einer Operation am offenen Herzen unterziehen. Mit einer Säge durchtrennten mir die Chirurgen das Brustbein. Nach dem Eingriff zerrte jeder Atemzug an dem mit Drähten geflickten Knochen, es fühlte sich an, als rollte ein Panzer über meine Brust. Ich kann dies mit Worten beschreiben, doch anders als eine Erinnerung an einen Sonnenuntergang vor blauem Meer fällt es mir schwer, diese Empfindung heute in mir wachzurufen.

Akuter Schmerz ist ein intensives, momentanes, sehr privates Erlebnis, und es verblasst offenbar gnädig. Wenn ich indes Zeuge werde, wie sich jemand mit einem höllisch scharfen keramischen Messer fast die Fingerkuppe abtrennt, wird mir heiß und kalt. Ich sollte abgebrühter sein. Eine kurze Zeit habe ich selbst im Operationssaal gestanden, Patienten mit großen Schmerzen erlebt und sie bei Bedarf mit Medikamenten versorgt. Wenn ein Skalpell im gleißenden Licht über die durch das Desinfektionsmittel gelblich gefärbte Haut glitt und dort einen roten, blutigen Strich zeichnete, meinte ich für einen Moment, den Schmerz des anderen spüren zu können, und musste wegsehen. Mir ist bewusst, dass diese Reaktion im Grunde genommen nur die mitfühlende Resonanz meines eigenen Schmerzempfindens war. Der Patient auf dem Operationstisch war betäubt und spürte in diesem Augenblick die Schärfe des Skalpells nicht. Und wäre er bei Bewusstsein gewesen, hätte ich nicht gewusst, was wirklich in ihm vorging. Schmerz ist subjektiv. Manche Patienten leiden erheblich unter Verletzungen, die anderen nichts ausmachen. Schmerz ist deutlich mehr als nur ein einfaches Warnsignal am Ende einer Klingelleitung.

Der Schmerz ist die Grenzfläche, an der Psyche und Körper aufeinandertreffen. Er ist Trennungsschmerz, Wundschmerz und psychische Verletzung durch Zurückweisung. Er ist ein Phänomen, welches das ganze menschliche Leben umfasst. Er ist die Grundlage vieler Religionen und Motor der Kultur. Ohne Schmerz keine Kunst, keine Sprache und kein Denken. Damit führt das Nachdenken über diese unangenehme, oft belastende Empfindung weit über die Medizin hinaus. Molekularbiologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Anthropologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften sind damit beschäftigt. Das Theater, das Kino, die Musik, die bildenden Künste und ein Gutteil der Weltliteratur arbeiten sich auf die eine oder andere Weise an der Thematik ab. Wobei es in der Kunst mehr um psychische Leiden geht. Aber besteht wirklich ein Unterschied zu den körperlichen Leiden? Im Laufe meiner Nachforschungen in Italien, Dänemark, Kanada, Großbritannien, Israel, Uganda, den Niederlanden und in Deutschland fand ich mich mit den grundlegendsten Aspekten des menschlichen Daseins konfrontiert.

Anlass für meine Recherchen waren die Vorbereitungen für ein kurzes Interview zu einem frei verkäuflichen Schmerzmittel. In einer Fachzeitschrift hatte ein Pharmakologe die Sicherheit des bekannten Medikamentes Acetaminophen, besser bekannt unter dem Namen Paracetamol, angezweifelt. Es war nur eine fachliche Randnotiz, aber zwischen den Zeilen steckte eine allgemeine Kritik des allzu sorglosen Gebrauchs von Analgetika. Schon Hobby-Marathonläufer schlucken heute dieses und ähnliche Medikamente in großer Zahl. Schmerzmittel sind billig und frei verfügbar und das, obwohl sie erhebliche Nebenwirkungen haben können. Eine beunruhigende Konstellation, die ein Interview wert schien. Rücken-, Knie- oder Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Gründen, weshalb Menschen den Arzt aufsuchen. Der Verbrauch von Analgetika schnellt in die Höhe, und die Zahl der Operationen an Gelenken und Wirbelkörpern nimmt bedrohliche Ausmaße an. Gleichzeitig sind Patienten oft unzufrieden mit den Ergebnissen. Die herkömmlichen Strategien der Medizin – und der Patienten – verfehlen offenbar ihr Ziel. Weder verschaffen die Medikamente genügen Linderung, noch führen sie zu einem gesunden Umgang mit dem Schmerz (Kapitel 1).

Schon in den Vorbereitungen zu dem Interview fand ich viele Hinweise darauf, dass sich hinter der Diskrepanz eine größere Geschichte verbarg, und aus dem Interview wurde ein dreiteiliger Artikel, der dann schließlich in dieses Buchprojekt mündete. Das Phänomen Schmerz war offensichtlich vielschichtiger, als ich es mir habe vorstellen können. Sagt der Umgang mit Schmerzen und Schmerzmedikamenten etwas darüber aus, wie wir zum Leben stehen? Und vor allem: Ist Schmerz etwas, das wir in jedem Fall und mit aller Macht bekämpfen müssen? Schlucken Menschen so viele Pillen, weil es ihnen körperlich schlechtgeht oder weil sie sich betäuben müssen? In einem Buch, das dem Wesen des Schmerzes auf den Grund geht, sollte es deshalb nicht nur um Krankheit und Medizin gehen. Die Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, erzählen eine eigene Geschichte, jenseits der harten Fakten. Es gab inspirierende Augenblicke und viele ernüchternde und ein paar Erfahrungen, die ich während meiner Recherchen und der Arbeit am Manuskript dieses Buches selbst mit dem Schmerz machte. Von diesen Erlebnissen soll an dieser Stelle die Rede sein. Es ist gleichsam das »Making-of« des Buches.

Als persönliche Übergangszeremonie vom Büroalltag in das selbstgewählte Buchexil stand eine zehntägige Wanderung in Norwegen. Wenn es eine Gegend gibt, die nachträglich betrachtet für die Höhen und Tiefen der Recherche und für die Mühsal auf dem Weg zu den wenigen zentralen Erkenntnissen steht, dann sind es diese stundenlangen Märsche im Rondane- und Dovrefjell-Nationalpark. Das Gelände ist übersät mit moosbewachsenen oder grauen Felsen und die Wanderung dadurch beschwerlich. Der Aufstieg zu den Zweitausendern mit fünfzehn Kilogramm Gepäck auf dem Rücken ist für den Untrainierten schweißtreibend und mitunter sehr hart. Es war ein freiwilliges »Leiden«, das fünf Mal mit der grandiosen Aussicht von einem Gipfel belohnt wurde: Storronden, Vinjeronden, Rondeslottet, Høgronden und Snøhetta. Bergab wartete dann wieder gefährlich scharfkantiges und manchmal verschneites Geröll. Jeden Tag nahmen Entspannung und Kondition etwas zu, und am Ende machte sich ein zutiefst befriedigendes Gefühl breit.

Manchmal ist es ratsam, sich an einen vorurteilsfreien Ratgeber zu wenden, jemanden, der nicht in die fragliche Materie verstrickt ist und sie gleichsam objektiv von außen betrachtet. Es gibt Menschen, die aufgrund extrem seltener Gendefekte keine schmerzhaften Reize spüren. Vielleicht konnte jemand mit solch einer Störung das Phänomen besser einordnen. Ich suchte einige Wochen in Deutschland und fand niemanden. Dann erfuhr ich von einigen englischen Patienten. Die aber wollten nicht mit mir sprechen. Hier und da hatte es ein paar Zeitungsberichte über diese seltsamen Menschen gegeben, aber die Spur führte ins Nichts. Es gebe jemanden in Indien, verriet mir ein deutscher Genetiker und übermittelte mir nach Rücksprache eine E-Mail-Adresse. Ich nahm über die Kontinente hinweg Kontakt auf. Schon bald musste ich feststellen, dass das Fehlen von Schmerz kein Glücksfall, sondern ein Handicap ist. Es macht die Betroffenen zu Außenseitern. Jetzt verstand ich, warum viele Menschen mit dieser Besonderheit das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Ich suchte nach einem Ausweg und traf in der Wüste von Israel auf die seltsamsten Kinder, denen ich je begegnet bin. Bedingt durch einen genetischen Defekt, sind auch sie schmerzfrei. Das macht sie zu furchtlosen und wild entschlossenen Wesen, die sehr radikal mit ihrem Körper umgehen und klaglos schwerste Verletzungen hinnehmen. Ihr selbstzerstörerischer Umgang mit der Welt ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Schmerz ein wertvolles Warnsignal ist und vollkommene Schmerzfreiheit nicht erstrebenswert sein kann. Auf ihre Weise wirken diese Kinder erwachsen und fremd, vielleicht, weil ihnen eine wesentliche menschliche Erfahrung fehlt. Auf der einen Seite ist Schmerz eine sehr einsame Erfahrung, auf der anderen Seite ist er ein urmenschliches Erleben, das uns verbindet. Schon diese einfache Erkenntnis steht im krassen Widerspruch zu Slogans wie »schmerzfreie Stadt« oder »schmerzfreies Krankenhaus«. Das Symptom hat mehr gute und böse Gesichter, als wir in der westlichen, schmerzarmen Welt realisieren.

Einerseits ist Schmerz ein Warnsignal, und doch können wir uns in begrenztem Maß darüber hinwegsetzen. Solange wir noch das Gefühl haben, dass der Schmerz nicht unser Denken, Fühlen und Handeln völlig vereinnahmt, sondern wir ihn kontrollieren, kann er sogar ein reizvoller Gegner sein, an dem wir unsere Grenzen austesten.

Zu der einsamen Arbeit an einem Buch gehören gewisse Rituale, die den Tag strukturieren. Ein Jahr lang aß ich jeden Tag Tom Ka Gai, eine thailändische Suppe mit Kokosmilch, Gemüsebrühe, Zitronengras, Knoblauch, roter Tom-Ka-Paste, Bambussprossen, Ingwer, Koriander und scharfen Chilischoten. Gern durfte es eine Extraportion dieser roten Scharfmacher sein. Im Chili steckt Capsaicin, eine Substanz, die unter Forschern beliebt ist, weil sie damit experimentell...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Erzählendes Sachbuch • Forschung • Kultur • Medikamente • Medizin • Neurowissenschaft • Psychologie • Religion • Schmerz • Schmerzen behandeln • Schmerzen Buch • Schmerzen verstehen • Schmerzmedizin • Schmerztherapie • Schmerztherapie Buch
ISBN-10 3-629-32079-1 / 3629320791
ISBN-13 978-3-629-32079-7 / 9783629320797
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