His Master's Voice (eBook)

Eine Theorie der Stimme

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
259 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73856-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

His Master's Voice - Mladen Dolar
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Die Stimme ist eines der flüchtigsten Dinge überhaupt und erweist sich doch als eines der komplexesten Phänomene. Dem slowenischen Philosophen und Kulturtheoretiker Mladen Dolar gelingt es, die vielfältigen Aspekte dieses Phänomens in einer einheitlichen Theorie zu bündeln, die systematische mit historischen Darstellungen verknüpft. Dabei eröffnet sich ein Feld, das kaum einen Aspekt der modernen Theorie unberücksichtigt lässt: die Linguistik, Physik und Metaphysik, die Ethik, Politik und Ästhetik der Stimme und nicht zuletzt die besonderen Stimmen bei Freud und bei Kafka kommen zu Wort.

<p>Mladen Dolar war Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t Ljubljana und arbeitet dort heute als Senior Research Fellow.</p>

7 EINLEITUNG

Che bella voce!


Ein Mann rupfte eine Nachtigall und sprach, da er nur wenig zu essen fand: »Du bist nur eine Stimme und sonst nichts.«

(Plutarch, Moralia: Sprüche der Spartaner [Apophthegmata Laconica] 233a)

Es gibt eine Geschichte, die geht so: Eine Kompanie italienischer Soldaten kauert mitten in der Schlacht im Schützengraben, und ihr Kommandant befiehlt: »Zum Angriff, Männer!« Um den Schlachtenlärm zu übertönen, ruft er mit lauter und klarer Stimme, aber nichts passiert, niemand rührt sich. Der Kommandant ist verärgert und ruft lauter: »Zum Angriff, Männer!« Immer noch keine Bewegung. Und weil in Witzen alles dreimal geschehen muß, bevor sich etwas tut, brüllt er nun: »Zum Angriff, Männer!« Woraufhin sich eine dünne Stimme aus dem Graben erhebt und genießerisch sagt: »Che bella voce!« – »Was für eine schöne Stimme!«

Diese Anekdote mag uns vorläufig als Einstieg in die Thematik der Stimme dienen. Auf der ersten Ebene handelt sie von einer fehlgeschlagenen Anrufung. Die Soldaten beziehen den Appell, den Ruf des anderen, den Ruf der Pflicht nicht auf sich und befolgen ihn nicht. Gewiß ist es kein Zufall, daß es sich hier um italienische Soldaten handelt; sie bedienen das Klischee, nicht die tapfersten Soldaten der Welt zu sein, und die Geschichte ist politisch bestimmt nicht besonders korrekt – sie frönt einem uneingestandenen Chauvinismus und nationalen Stereotypen. Der Befehl mißlingt also, die Angesprochenen erkennen nicht, daß die Botschaft an sie gerichtet ist; statt dessen konzentrieren sie sich auf das Medium, die Stimme. Die Hellhörigkeit für die 8Stimme verhindert die Anrufung und das Annehmen eines symbolischen Mandats, die Übertragung einer Mission.

Auf einer zweiten Ebene aber funktioniert eine andere Anrufung an Stelle der fehlgeschlagenen: Zwar erkennen sich die Soldaten nicht in ihrer Mission als Soldaten mitten im Kampfgeschehen, sehr wohl aber erkennen sie sich als die Adressaten einer anderen Botschaft. In Reaktion auf einen Ruf bilden sie eine Gemeinschaft, die Gemeinschaft derer, die die ästhetische Qualität einer schönen Stimme zu schätzen wissen – und zwar auch und gerade dann, wenn es kaum der rechte Moment dafür ist. Bedienen sie also einerseits das Klischee des italienischen Soldaten, so führen sie sich auch in dieser anderen Hinsicht wie Klischeeitaliener auf, nämlich wie italienische Opernliebhaber. Indem sie sich in die Gemeinschaft der »Freunde der italienischen Oper« verwandeln (um die unsterbliche Formulierung aus Some Like It Hot aufzugreifen), werden sie ihrem Ruf als Connaisseure gerecht, als Menschen von erlesenem Geschmack, die ihre Ohren ausgiebig am Belcanto geschult haben und eine schöne Stimme erkennen, wenn sie eine hören, und sei es im Geschützfeuer.

Aus meiner voreingenommenen Sicht taten die Soldaten gut daran, für den Anfang zumindest, sich auf die Stimme und nicht auf die Botschaft zu konzentrieren – und hierin möchte ich ihnen gerne folgen. Natürlich taten sie es aus den falschen Gründen: Ein ästhetisches Interesse überkam sie just in dem Moment, als sie hätten angreifen sollen; sie konzentrierten sich auf die Stimme, weil sie die Botschaft nur zu gut verstanden. Stellen wir uns vor, um im stereotypen Bild zu bleiben, der italienische Kommandant hätte gesagt: »Männer, die Stadt ist voller hübscher Mädchen, ihr habt den Nachmittag frei«, dann ist wohl zu bezweifeln, daß sie das Medium der Stimme dem Handlungsaufruf vorgezogen hätten. Ihr selektives ästhetisches Interesse beruhte auf einem »Ich kann Sie nicht richtig hören«,1 freilich mit einer Besonderheit: 9Normalerweise hört man auf die Bedeutung und überhört die Stimme, man »hört [die Stimme] nicht richtig«, weil sie von der Bedeutung überdeckt ist. Doch ganz abgesehen von ihrem vorgeschützten Kunstinteresse sabotierten die Soldaten die Stimme in dem Moment, in dem sie sie isolierten; sie verwandelten sie unversehens in einen Gegenstand der ästhetischen Lust, in einen Gegenstand der Bewunderung und Verehrung, in die Trägerin einer Bedeutung jenseits aller gewöhnlichen Bedeutungen. Der ästhetischen Konzentration auf die Stimme entgeht die Stimme genau deshalb, weil sie sie zu einem Fetischobjekt macht; die ästhetische Lust verdunkelt das Objekt Stimme, dem ich mich im folgenden zuwenden möchte.

Ich werde zu zeigen versuchen, daß neben den beiden üblichen Verwendungsweisen der Stimme – der Stimme als Trägerin von Bedeutung und der Stimme als Gegenstand ästhetischer Bewunderung – eine dritte Ebene existiert: ein Objekt Stimme, das sich weder im Zuge des Bedeutungstransfers in Luft auflöst noch zum Monument fetischistischer Verehrung erstarrt, sondern sich vielmehr als blinder Fleck des Rufes und als Störung der ästhetischen Wertschätzung erweist. Der ersten Ebene zollt man Tribut, indem man angreift, der zweiten, indem man in die Oper geht. Um der Stimme auf der dritten Ebene Tribut zu zollen, muß man sich an die Psychoanalyse halten. –

Armee, Oper, Psychoanalyse?

Für den zweiten, paßgenaueren Einstieg in unsere Thematik möchte ich mich einer berühmt-berüchtigten Textstelle bedienen, der ersten von Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff 10der Geschichte«, jenes letzten Textes, den er noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1940 fertigstellte.

Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen. (Benjamin 1980, Bd. 2, S. 693)

Fast macht es mich verlegen, diesen legendären und von Interpretationen umstellten Text nochmals zu befragen,2 dennoch möchte ich versuchen, ihn als Prolegomenon zu einer Theorie der Stimme zu nutzen. Ich gebe zu, daß der Zusammenhang alles andere als offensichtlich ist.

Benjamin bezieht sich auf die Geschichte des Automaten, als sei sie allgemein bekannt, und in der Tat war sie spätestens seit Edgar Allan Poes eigentümlichem Aufsatz »Mälzels Schachspieler« von 1836 überaus populär.3 Poes Text ist 11eigentlich eine Mischung aus investigativem Journalismus und detektivischem »Scharfsinn« à la Dupin – als Johann Nepomuk Mälzel in den 1830er Jahren mit dem angeblichen Schachautomaten auf Amerikatour war, ließ Poe es sich nicht nehmen, zahlreiche Vorführungen zu besuchen und sorgsam alle Besonderheiten zu notieren. Mittels empirischer Beobachtung und deduktiver Schlußfolgerung wollte er zeigen, daß es sich auf keinen Fall um eine denkende Maschine handeln konnte, wie den Zuschauern Glauben gemacht wurde, sondern eindeutig um einen Schwindel. In dieser Maschine mußte ein Geist stecken, ein Geist in Gestalt eines zwergenhaften menschlichen Schachspielers.4

Was genau meinte Benjamin mit seiner seltsamen Parabel oder Metapher, wenn es denn eine sein sollte? Selbst wenn wir den historischen Materialismus und die Theologie einmal außer acht lassen, bleibt ja das Rätsel, wie eine Puppe denjenigen in Dienst nehmen kann, der sie bewegt, der ganz wörtlich ihre Fäden zieht. Die Puppe scheint von dem buckligen Zwerg kontrolliert zu werden, wird aber in einem zweiten Schritt selbst mit Intentionalität bedacht; sie selbst soll nun die Fäden ihres Herrn ziehen, ihn für ihre eigenen Zwecke in Dienst nehmen. Wie der Automat scheint auch die Metapher verdoppelt, doch liegt das Geheimnis ihrer Doppelnatur vielleicht in einer ziemlich buchstäblichen Verdopplung.

Der Schachautomat wurde 1769 von dem Hofkammerrat 12Wolfgang von Kempelen5 für Kaiserin Maria Theresia konstruiert (für wen sonst?). Er bestand aus einer türkischen Puppe, die in der einen Hand eine Wasserpfeife hielt, während sie mit der anderen ihre Züge machte, und einem Kasten, der ein raffiniertes System von Schubladen und klappbaren Trennwänden enthielt. Dieses System erlaubte es dem vermeintlichen buckligen Zwerg, sich unsichtbar in ihm zu bewegen, während dem Publikum vor Beginn des Spieles das Innere des Automaten präsentiert wurde. Der Schachautomat war bald in aller Munde; er schlug berühmte Gegner (unter ihnen Napoleon in einem berühmten, aktenkundig gewordenen Spiel, obwohl man den Quellen mißtrauen darf – Napoleon stand im Ruf, ein sehr guter Schachspieler zu sein, diese Partie allerdings gereichte ihm nicht zur Ehre: Soloausflüge mit der Königin, eine vernachlässigte Verteidigung – kein Wunder, daß er auf dem Weg nach Waterloo war). Nach Kempelens Tod 1804 nahm Mälzel den Automaten in Besitz und ging mit ihm schließlich nach Amerika auf eine große Tournee. Historische Bedeutung kann Mälzel im übrigen auch dafür beanspruchen, daß er im Jahr 1816 das erste Metronom konstruierte. Als erster machte Beethoven in seiner 8. Symphonie von 1817 von der Tempoangabe des Metronoms Gebrauch; eine alles andere als zufällige Verbindung, hatte doch Mälzel auch Beethovens Hörgerät konstruiert – hier...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2014
Übersetzer Michael Adrian, Bettina Engels
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Schlagworte Sprachwissenschaft • Stimme • STW 2135 • STW2135 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2135 • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-73856-9 / 3518738569
ISBN-13 978-3-518-73856-6 / 9783518738566
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