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Vorwort

Dieses Buch wird meines Erachtens ein Klassiker, und zwar für Kliniker wie auch für Forscher. Die Geschichte unseres Verständnisses der Familie ist eigenartig. Bis heute haben nur sehr wenige Forscher den ersten Anfängen des primären Dreiecks, d. h. der Familie, ausführlich und konsequent ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Bei konventionellen psychoanalytischen Ansätzen spielt das primäre Dreieck auf dem Schauplatz der Entwicklung erst dann eine Rolle, wenn das Kind im Alter von ungefähr drei bis vier Jahren die ödipale Phase erreicht. Damit fängt die ernsthafte Geschichte des familialen Dreiecks als zentrales Thema de facto erst in diesem Lebensalter an.

In der systemischen familienbezogenen Theorie und Praxis hat die Familie überhaupt so gut wie keinen Anfang. Bei diesem Ansatz entstand der erste Impetus, die Familie zu verstehen, als der schizophrene Adoleszente und seine Familie in den klinischen Fokus gerückt wurden. Daraus entwickelte sich das Ursprungsparadigma in der Systemtheorie der Familie. Seit diesem Auftakt werden Familien mit kleineren Kindern mit großem Erfolg erforscht. Doch wiederum sind, wie auch bei der psychodynamischen Theorie, die frühesten Anfänge der Familie nie ins Zentrum der Forschung gestellt worden.

Diese eigentümliche Geschichte hat dazu geführt, dass wir zwar außerordentlich wichtige Theorien über die Familie und kraftvolle familientherapeutische Verfahren entwickelt haben, dass aber zwischen dem Erreichten und dem Entstehungspunkt des primären Dreiecks eine Kluft besteht. Wir haben zwar ein Aktionsfeld, aber kein fundiertes Verständnis seines entwicklungsbezogenen Ursprungs.

Genau an dieser Stelle fügt dieses Buch die fehlenden Steine im Mosaik ein. Es bietet eine klinische Perspektive, die auf einer außerordentlich konsequenten Forschung gründet, die auf die Entwicklung des primären Dreiecks von den ersten Lebensmonaten des Kindes an fokussiert. Dieses Thema wird hier auf vielen Ebenen der Organisation untersucht: von der präzisen Mikroanalyse von Verhaltensweisen bis zur Analyse großflächiger klinischer Muster. Dadurch legt das Buch die verhaltensbezogenen und narrativen Strukturen offen, die den größeren klinischen Mustern zugrunde liegen. Und die Muster, die dabei sichtbar werden, sind eindeutig klinisch verwertbar. In dieser Hinsicht haben die Autorinnen ein neues Forschungsfeld erschlossen.

Wenn ein nicht ausreichend erforschter Bereich schließlich eine angemessene Würdigung erfährt, ist es von unschätzbarem Wert, ja sogar unerlässlich, dass eine neue Methode entwickelt wird, um elementare Eigenschaften der untersuchten Phänomene ans Licht zu bringen. Die Bindungstheorie und -forschung sind ein gutes Beispiel dafür. Als Mary Ainsworth und ihre Kolleginnen und Kollegen das Setting der "fremden Situation" paradigmatisch nutzten, um das Phänomen der Bindung zu untersuchen, entwickelten sie ein Verfahren, das die Arbeit auf dem Feld der Bindungsforschung so beflügelte, dass Theorieentwicklung, Forschung und klinische Exploration rasch voranschritten. Das "Lausanner Trilogspiel"* ist ein vergleichbares Werkzeug, mit dem die Familie in ihrer Entstehung untersucht wird. Dieses Verfahren beruht - wie die "fremde Situation" auch - auf klinisch und ethologisch wichtigen und natürlich stattfindenden Vorgängen, die sich tagtäglich in einer jungen Familie ereignen; diese Vorgänge haben aber normativen Charakter, sodass sie für Forschungszwecke optimal geeignet sind und auch für andere Zwecke umfassend genutzt werden können. Analog der Entwicklung in der Bindungsforschung kann es sich herausstellen, dass die unterschiedlichen Typen von "Familienallianzen", wie Fivaz-Depeursinge und Corboz-Warnery sie beschreiben, die gleiche vorhersagende klinische Kraft haben wie die Bindungsmuster.

Wenn ein neues oder nicht ausreichend untersuchtes Forschungsfeld erschlossen wird, sind die Pioniere, die es zum ersten Mal betreten und gründlich bearbeiten, in der idealen Position, dass sie das Territorium abstecken und die Landkarten anfertigen können, die spätere Forscher auf diesem Gebiet verwenden oder bekämpfen werden. Und wenn die Wegbereiter bzw. Wegbereiterinnen subtile Theoretiker/innen, erfahrene Kliniker/innen und konsequente Forscher/innen wie Elisabeth Fivaz-Depeursinge und Antoinette Corboz-Warnery sind, dann ist das Ergebnis ihrer Exploration ein Klassiker.

Daniel N. Stern




* In der Originalfassung wird der Begriff "Lausanne Triadic Play (LTP)" verwendet, der im Deutschen unter der Bezeichnung "Lausanner Triadische Spielsituation" oder "Lausanner Spiel in Triaden" bekannt ist. Inzwischen bevorzugen die Autorinnen den Begriff "Lausanne Trilogue Play", weil er sich spezifisch auf die zwischen Personen (ohne Objekteinbindung) ablaufenden Interaktionen bezieht. In der deutschen Fassung wird die Bezeichnung "Lausanner Trilogspiel" verwendet (Anm. d. Übers.).