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VORWORT

Liebe 54er!


Seien wir mal ehrlich: An unsere ersten paar Lebensjahre haben wir keine konkreten Erinnerungen. Aber wir alle hören gerne Geschichten darüber, wie es war, als die Mama uns ins warme Wasser der Zinkbadewanne steckte. Oder wie wir im Sandkasten ganz unbefangen den Regenwurm zwischen die Fingerchen nahmen und ihn kurzerhand - zerkauten. Oh, schöne Kinderzeit!

Unsere Kindheit in den 50er Jahren ist weit entfernt und wird oft verklärt. Doch nach einem verlorenen Krieg, nach Zerstörung und mühsamem Aufbau setzte sich damals, als wir geboren wurden, die Zuversicht in eine verheißungsvolle Zukunft durch. Der Wohlstand nahm zu, das Selbstbewusstsein unserer Großeltern und Eltern wuchs. Und wir, kleine Kinder noch, bekamen etwas mit von dieser Atmosphäre. Wir fühlten uns sicher. Armut und Not gehörten nicht mehr zum alltäglichen Leben. Wir waren die echten Nachkriegs-Kinder, für die Kriege, Hunger und andere Katastrophen nur mehr Geschichten aus der Vergangenheit oder aus anderen Regionen dieser Welt bedeuteten.

So unpolitisch, bieder-bürgerlich und angepasst unsere Kindheit auch aussah: Die Grenze vom Kind zum Jugendlichen überschritten wir in einer Zeit des gesellschaftlichen, politischen und moralischen Umbruchs. Die 60er Jahre brachten eine eigene Jugendkultur hervor, die revolutionär war und die Elterngeneration schockte. Und wir mittendrin in der Pubertät. Musik und Mode setzten neue Akzente, sexuelle Freizügigkeit und kritische Auseinandersetzung mit Autoritäten stellten bisherige Standards radikal in Frage. Die Medien holten die weltweiten Krisen ins heimische Wohnzimmer. Das strenge Reglement unserer Kindheit löste sich auf in Diskussionen über Antibaby-Pille, Vietnamkrieg, Rockmusik, Selbstbestimmung.

Unsere Kindheit und Jugend bewegte sich zwischen Tradition und Revolte. Symptomatisch dafür sind zwei Wahlslogans aus den Kindheits- und Jugendjahren der 1954er: Konrad Adenauer gewann 1957 die Wahlen mit dem Aufruf "Keine Experimente!" Zwölf Jahre später siegte Willy Brandt bei der Wahl 1969 mit der Aufforderung "Mehr Demokratie wagen". Wie uns diese Gegensätze geprägt haben, das zeigt dieser Jahrgangsband mit seinen Ausflügen in den Alltag jener Jahre, ergänzt mit Schlaglichtern auf das, was außerhalb unserer kleinen Welt geschah.


Ulrike Lange-Michael