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Vorwort Sigmund Freud soll einmal gesagt haben, die Menschheit habe im Laufe ihrer Geschichte von der Wissenschaft drei empfindliche Kränkungen hinnehmen müssen: eine kosmologische durch das heliozentrische Weltsystem des Kopernikus, eine biologische durch Darwins Abstammungslehre und eine psychologische durch die Freudsche Hypothese von der relativen Ohnmacht des freien Willens gegenüber unstillbaren, aus dem archaischen Unbewußten aufsteigenden Triebwünschen. Der Mensch steht somit weder im Zentrum unseres Sonnensystems noch ist er eine biologische Besonderheit. Er ist sogar nicht einmal "Herr im eigenen Hause", da sein Verhalten teilweise von unkontrollierbaren, unbewußten Antrieben gesteuert wird. Der deutsche Domherr Nikolaus Kopernikus veröffentlichte kurz vor seinem Tod ein berühmtes Werk über die Umdrehungen der Himmelskörper. Seine aus Berechnungen abgeleitete Erkenntnis, daß sich die kugelförmige Erde im Verlaufe eines Jahres um die Sonne bewegt, war im 16. Jahrhundert revolutionär. Um die damaligen Herrscher, die fest vom geozentrischen Weltsystem überzeugt waren, nicht zu provozieren, wurde in einem Vorwort zur Erstausgabe des Werkes von Kopernikus dessen neue Lehre als "Hypothese" bezeichnet. Es dauerte nahezu ein Jahrhundert, bis die "kopernikanische Wende", dank der Leistungen der Naturforscher Tycho Brahe, Johannes Kepler, Galileo Galilei und Isaac Newton, in Fachkreisen vollzogen war. Heute, im Zeitalter der Raumfahrt, zweifelt niemand mehr an der Lehre des Kopernikus; aus der heliozentrischen "Welthypothese" wurde eine Theorie, die den Status einer erwiesenen Tatsache (Naturgesetz) erreicht hat. Welchen Stellenwert haben heute die beiden anderen eingangs angesprochenen Theorien? Die Psychoanalyse des Mediziners Sigmund Freud, insbesondere dessen Hypothese vom Unbewußten, hat derzeit etwa so viele Anhänger wie Gegner. Ohne hier in die Kontroverse einsteigen zu wollen, kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Freudschen Hypothesen nicht den Status allgemein akzeptierter Tatsachen erlangt haben. Die Diskussion um die im Jahr 1859 von Charles Darwin erstmals in Buchform publizierte Abstammungslehre oder Deszendenztheorie hat bis heute kein Ende gefunden. Von nahezu allen sachkompetenten Biologen wird die Synthetische Evolutionstheorie, die aus den Grundgedanken Darwins hervorgegangen ist, als Beschreibung und kausale Erklärung einer erwiesenen Tatsache angesehen: Evolution, das allumfassende Konzept der gesamten Biologie, gilt als so sicher wie das heliozentrische Weltsystem des Kopernikus. Andererseits wird der Evolutionsgedanke, der das Selektionsprinzip und die Lehre von der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen der Erde beinhaltet, aus einer Reihe von Gründen noch heute von verschiedenen Personenkreisen abgelehnt. Das zentrale Argument dieser Kritiker lautet, kurz zusammengefaßt, etwa folgendermaßen: Evolution ist ein vages Hypothesengebäude, vergleichbar mit den umstrittenen Lehrsätzen Freuds. Eine Extremposition unter den Evolutionsgegnern vertreten die besonders in den USA sehr aktiven Kreationisten. Unter Verweis auf christlich-religiöse Quellen (z. B. die Genesis der Bibel) wird die Evolutionstheorie, und damit indirekt die gesamte moderne Biologie, als "Teufelswerk" verdammt und mit unwissenschaftlichen Scheinargumenten verbal bekämpft. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit etablierte sich im Verlauf der letzten Jahre auch in Deutschland eine kleine Kreationistenbewegung. Neben den Werken dieser christlich-konservativ ausgerichteten Evolutionsgegner gibt es derzeit im Buchhandel eine Reihe weiterer evolutionskritischer Schriften. Die betreffenden Autoren argumentieren etwa wie folgt: Das darwinistische "Denkmodell aus dem Dampfmaschinenzeitalter" sei widersprüchlich, in sich unlogisch und durch Tatsachen seit langem widerlegt. Das evolutionistische Weltbild impliziere die Ansicht, "der Mensch habe sich im Verlauf von Jahrmillionen über Selektionsprozesse aus einer Ursuppe über die Kaulquappe und den Affen zu dem entwickelt, was er heute ist" (Zitate aus der deutschen Tagespresse, 1999). Erstaunlicherweise fühlen sich viele Nichtbiologen wie Journalisten, Ingenieure, Theologen oder Juristen dazu berufen, über die Evolutionstheorie zu urteilen, während zu anderen großen Problemen der Biologie, z. B. der Lichtreaktion der Photosynthese, der Laie mangels Sachkompetenz schweigt. Die Unkenntnis biologischer Fakten und Denkweisen kommt etwa im folgenden populären Zitat beispielhaft zum Ausdruck: "Ich glaube nicht daran, daß der Mensch vom Affen abstammt." Dies hat auch kein sachkundiger Biologe jemals behauptet. Eine heute lebende Tierart, wie z. B. der Schimpanse, kann nicht der stammesgeschichtliche Vorläufer einer gleichzeitig lebenden zweiten Spezies sein. Aus der großen anatomischen, biochemischen und genetischen Ähnlichkeit der beiden Säugerarten folgt jedoch, daß Schimpansen und Menschen nahe miteinander verwandt sind und somit - wie Geschwister - von gemeinsamen Vorfahren (affenähnlichen Urahnen) abstammen. Aus diesen Ausführungen folgt, daß zum Verständnis des "evolutionistischen Weltbildes der Naturwissenschaften" ein umfassendes biologischchemisches Grundlagenwissen notwendig ist. Die Evolutionsbiologie durchdringt praktisch alle Teildisziplinen der Biowissenschaften; sie umfaßt die organismisch-ökologische Ebene (Analyse von Lebensgemeinschaften in der freien Natur) und erstreckt sich hinunter bis auf das Niveau isolierter Moleküle (Ribonucleinsäure-Evolution im Reagenzglas). Die Nennung der Titel von zwei Fachzeitschriften, Trends in Ecology and Evolution und Journal of Molecular Evolution, möge dies dokumentieren. Das vorliegende Kurzlehrbuch verfolgt das Ziel, in prägnanter, anschaulicher Form die Grundlagen der Evolutionsbiologie zu präsentieren. In den ersten beiden Kapiteln sind allgemeine Fakten und historische Sachverhalte zusammengetragen, die dem biologisch Vorgebildeten bekannt sein werden. Die Leser sollen durch diesen einleitenden Vorspann auf den gleichen Kenntnisstand gebracht werden. In Kapitel 3 wird die Synthetische Theorie der biologischen Evolution, in ihrer derzeit aktuellen erweiterten Form, abgeleitet und beschrieben. Dieses theoretische Konzept wird in allen folgenden Kapiteln immer wieder zur Diskussion gestellt. Unsere derzeitigen Vorstellungen vom Verlauf der Stammesgeschichte der Organismen auf der Erde, verknüpft mit den wichtigsten geologischen Ereignissen, sind in Kapitel 4 dargestellt. Ausgehend von umfassenden Fossilfunden, die insbesondere in den 1990er Jahren entscheidende Zusätze erfahren haben, wird ein Bild der rund 4 Milliarden Jahre andauernden Evolution entworfen. Die erst in jüngster Zeit erforschten und nachgezeichneten großen historischen Naturkatastrophen, die zu mehreren Massenaussterbe-Ereignissen geführt haben, sind im Detail beschrieben. Die Kapitel 5 bis 8 zur chemischen Evolution (Biogenese), zur Zellevolution, zur molekularen Stammbaumanalyse und zur klassischen (beobachtend-vergleichenden) Phylogeneseforschung nehmen Bezug auf den durch Fossilreihen dokumentierten Verlauf der Stammesgeschichte der Organismen. In Kapitel 9 sind neben klassischen Befunden einige aktuelle Beispiele aus der experimentellen Evolutionsforschung zusammengestellt. Die drei letzten Kapitel 10 bis 12 sind den Themenbereichen Kreationismus und Evolutionskritik sowie der Beziehung zwischen Naturwissenschaft und religiösem Glauben gewidmet. Jeder biologisch Interessierte sollte die Organisationsformen und Argumente der Evolutionsgegner kennen, um ihnen im Konfliktfall schlagfertig entgegentreten zu können. In diesen Kapiteln werden die Argumente der deutschen Kreationisten und Evolutionskritiker zitiert und durch ausführliche Gegendarstellungen entkräftet. Manche Einwände gegen die Evolutionstheorie sind trivial und leicht zu widerlegen; andere bedürfen einer detaillierten Erörterung unter Verweis auf publizierte Quellen. Kein Biologe kann heute alle Teilgebiete der Evolutionsforschung in ihrer Gesamtheit mehr überblicken oder gar im Detail mitverfolgen. Daraus folgt, daß jede zusammenfassende Darstellung der Evolutionsbiologie in gewisser Weise selektiv ist. Ich habe mich dennoch bemüht, neben dem klassischen Lehrstoff eine möglichst repräsentative Auswahl eindrucksvoller Höhepunkte aus der aktuellen Forschung zu referieren. Einige Sachgebiete, z. B. die Populationsgenetik oder die phylogenetische Systematik, konnten im Rahmen dieser recht kurzen Abhandlung leider nicht näher diskutiert werden. Es sei an dieser Stelle auf das Literaturverzeichnis am Ende des Textes verwiesen. An wen richtet sich dieses Buch? In erster Linie wurde es für Studierende des Fachs Biologie verfaßt. Da ich im Rahmen der drei einführenden Kapitel allgemeine Grundlagen und historische Zusammenhänge dargestellt habe, sollte der Text auch für naturwissenschaftlich interessierte Nichtbiologen, wie z. B. Psychologen, Mediziner und Theologen, verständlich sein. Im Schulunterricht (gymnasiale Oberstufe) wird das Thema Evolution ausführlich behandelt. Für Lehrende wie für interessierte Schüler könnten die hier zusammengetragenen Fakten als weiterführende Diskussionsgrundlage dienen. Letztlich bietet diese Abhandlung eine Argumentationshilfe für all jene, die sich auf eine kontroverse Auseinandersetzung zum Thema Evolution einlassen wollen. Sollte der eine oder andere Kritiker der Evolutionstheorie vom Wahrheitsgehalt dieses grandiosen Gedankengebäudes der Naturwissenschaften überzeugt werden können, so habe ich das Ziel meiner Bemühungen erreicht. Dieses Werk hätte ohne fremde Hilfe nicht entstehen können. Mein Dank gilt Frau O. Brand, die meine Vorlesungsaufzeichnungen in Manuskriptform gebracht hat. Dem Lektorat des Parey Buchverlages danke ich für die gute Zusammenarbeit während der Monate, die zwischen der Manuskriptabgabe und dem Erscheinen des Buchs vergangen sind.
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