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Vorbemerkung Zwiespältigkeit prägt unsere Begierden als die Eingeborenen "postmoderner" Mediengesellschaften. Wir schimpfen auf "die Medien" und sind zugleich süchtig nach ihren Angeboten. Wir leiden unter der Überfülle an Optionen zur Unterhaltung, Belehrung und Information, die uns zu riskanten Auswahlmanövern zwingt und uns nach jeder Entscheidung stets in der Unruhe zurückläßt, das Wichtigste eben doch verpaßt zu haben. Unsere Selbstinszenierungen und Identitätsbricolagen imitieren mediale Vorbilder oder bleiben auch noch in der schroffsten Ablehnung intim an sie gebunden - spätestens unser Körper blamiert uns mit Blick auf die insgeheim bewunderten chirurgischen Artefiktionen der Werbe- und Model-Körper. Werbung fasziniert uns (meist wider Willen) als die perfekte Inszenierung von Immanenz, und wer oder was auch immer die Selbststilisierung zum Markenimage nicht schafft, hat schlechte Karten in den harten Spielchen der Aufmerksamkeitsökonomie. Aber nicht nur das Leben in Medienkulturgesellschaften, auch jeder Versuch, sie wissenschaftlich auf den Begriff zu bringen und ihre innere Mechanik zu verstehen, erweist sich als zwiespältige Begierde; denn jeder Versuch beginnt und endet in reflexiven Schleifen und autokonstitutiven Paradoxien. Jede Beschreibung einer Kultur setzt eine Kultur der Beschreibung voraus. Der Beobachter steht nicht souverän außerhalb der Beobachtungssituation, er ist vielmehr in sie verstrickt. Und je genauer er die Phänomene beobachtet und beschreibt, je genauer er seine Beobachtungen beobachtet, desto intensiver wird die Erfahrung ubiquitärer Kontingenz - er hätte alles auch anders und er hätte anderes beobachten und beschreiben können. Und dasselbe gilt auch für Beobachterinnen. Dieses Erschrecken auszuhalten, erlaubt uns - Kultur. Mit ihren Orientierungsschleifen, Routinen und Selbstverständlichkeitsangeboten invisibilisiert sie die Kontingenz all unseres Tuns, erlaubt sie - selbst durch und durch kontingent - eine kontingente Bearbeitung von Kontingenz, die uns durch ihren pragmatischen Erfolg zur tröstlichen Selbstverständlichkeit wird - bis wir sie in den Medien beobachten und dabei ihre Kontingenz erleben. Die Einsicht in die Ubiquität von Kontingenz - einst klandestines Privileg reflexionserprobter Weiser und Philosophen - ist heute potentiell Allgemeingut geworden; denn die Medien haben dadurch, daß sie unentwegt Beobachter beim Beobachten beobachten und auch sich gegenseitig unter Dauerbeobachtung halten, uns Mediennutzer in den Beobachtungsstatus zweiter Ordnung eingewöhnt - und uns zugleich damit allein gelassen. Woher nehmen wir nun die Fähigkeiten und die psychische Stärke, Kontingenz zu ertragen, unser eigenes Leben, unsere eigenen Problemlösungen als bloße Möglichkeiten unter anderen zu ertragen? Motiviert uns dieser Stand der Dinge nicht automatisch, uns in fundamentalistische Positionen zurück zu entwickeln, um unsere alte bequeme Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit wiederzugewinnen? Religiöse und politische Fundamentalisten jeglicher Couleur demonstrieren uns vor, wie das gemacht wird und welche Konsequenzen sich daraus notwendig ergeben. Dies ist die dunkle Seite der Medienkulturgesellschaften, die Folge der strukturellen Wirkungen der Medien, die angesichts der Oberflächenfaszination der Medienangebote so leicht übersehen werden. Unter dem Strich also ein teures Plaisir, eine hohe Rechnung für unsere zwiespältigen Begierden. Unsere Zukunft wird davon abhängen, ob wir es lernen, erfolgreich Kontingenz mit Kontingenz zu bearbeiten. |
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