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Vorwort


9. November 1989 - der Tanz des Volkes auf der Berliner Mauer wurde als die erste erfolgreiche Revolution in Deutschland gewertet. Im linearen Fortschrittsdenken befangen, hatten viele Linke Schwierigkeiten, in der unerwarteten Wende der DDR zu Marktwirtschaft und Demokratie eine Revolution zu erkennen. Ihre Hoffnungen richteten sich auf eine positive Konvergenz der beiden deutschen Systeme. Etwas vom Hoffen auf den "Dritten Weg" zwischen dem realen Sozialismus und dem westlichen System schien auch für die Bundesrepublik aufzukeimen. Die Überstürzung der Ereignisse machte diese Hoffnungen seit Februar 1990 auch für die DDR zunichte.

Übersehen wurde dabei, dass auch die südlichen Nachbarländer der DDR, vor allem die Tschechoslowakei und Ungarn, mit besseren Voraussetzungen keinen "Dritten Weg" in Aussicht nahmen. Dort waren die reformsozialistischen Eliten von der Repressionspolitik des realen Sozialismus unbelastet.

Die deutschen Eliten in Ost- und Westdeutschland hatten 40 Jahre nur eines gemeinsam gehabt: Kein "deutscher Sonderweg" sollte das jeweilige System mehr vom Rest des eigenen Lagers trennen. Ein "Dritter Weg" für die DDR war daher von Anfang an aussichtslos. Ohne internationale Solidarität der exsozialistischen Länder war ein "Dritter Weg" nicht denkbar. Der "Restsozialismus in dem Teil eines Landes" wäre selbst in marxistischer Sicht als Szenario unter das Verdikt von Engels gegen die preußischen Sozialisten von Rodbertus bis Dühring gefallen, dass sie als "verkannte Genies" eine große Ignoranz offenbarten, "über alles, was außerhalb Preußens vorging" (MEW Bd. 21: 176).

Die friedliche Kerzenrevolution vom November 1989 kann als erste erfolgreiche deutsche Revolution nur bedingt mit Stolz erfüllen. Sie war die erste Revolution in einem Modell des Kollapses eines anscheinend noch gefestigten sozialistischen Systems. Aber ein tschechischer Demonstrant auf dem Wenzelsplatz wies auf die internationalen Zusammenhänge hin, als er mit Stolz verkündete, "wir werden in acht Tagen schaffen, wozu Polen acht Jahre und die DDR acht Wochen brauchte". Im Modell der Erosion des realen Sozialismus wogen die acht Jahre des polnischen Widerstandes schwerer als die acht Wochen in der DDR. Die "ausgehandelte Revolution" Ungarns war eine direkte Vorbedingung für die Abstimmung mit den Füßen durch die Bürger der DDR. Die Erosion des realen Sozialismus in Polen und Ungarn ihrerseits wäre ohne die friedliche Revolution Gorbatschows von oben in der Perestroika der Sowjetunion kein unumkehrbarer Prozess gewesen.

Trotz der singulär erscheinenden Ereignisse des deutschen Einigungsprozesses wird der Verfasser in einer konfigurativen Analyse des politischen Systems in Deutschland dem Ansatz der früheren Auflagen treu bleiben und die Prozesse in Deutschland am Vergleich mit anderen Ländern messen. Die reiche Literatur über Systemwandel in den siebziger Jahren wird heute in den osteuropäischen Raum kanalisiert. Die Ereignisse der Forschung über "Transition to Democracy" sind aber nur sehr bedingt auf den östlichen Teil des Landes anwendbar. Die Stärke des Westens als Referenzkultur für die DDR, und die organisatorische Macht westdeutscher sozialer und politischer Kräfte hat der Transformation der DDR ihr beispielloses Tempo verliehen. Daher ist es, trotz der Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Ost und West, bereits möglich, von einem deutschen "System" zu sprechen. Selten hat in einem politischen Prozess die gute Absicht des Handelns der Akteure in der DDR so wenig Einfluss auf das funktionale Resultat im Systemzusammenhang Deutschlands entwickelt. Kein Wunder, dass sich Enttäuschung und Apathie unter den Bürgern der ehemaligen DDR und ihren Akteuren in der friedlichen Revolution ausbreiteten. Aber die Enttäuschungen werden sich als weitgehend unvermeidlich erweisen, wenn die sozialen und politischen Kräfte in Ost und West analysiert werden: die politische Kultur, die Parteien, die Interessengruppen, die Eliten.

Der Verfasser wurde im fernen Australien von den Ereignissen überrascht. Auf einer Tagung der Osteuropaforschung des Südpazifiks brachen Statusängste naturwüchsig hervor: "Wir Sozialismusforscher müssen uns nun alle im History Department bewerben." "Du hast es gut", sagte ein Kollege zu mir, "du schreibst ja auch über Deutschland. Bei dir ist nicht alles Makulatur." Ich war damals keineswegs davon überzeugt, dass mein Buch über das "Politische System der Bundesrepublik Deutschland" Namen und Struktur seines Aufbaus behalten könnte. Der Verfasser ist eher von einem anderen Schockerlebnis gezeichnet: Die Struktur des Aufbaus des alten Buches konnte wenig verändert beibehalten werden. Der Prozess der publizistischen Adaption an das neue größere System zeigt das Problem in der Sache: Es wird ein asymmetrisches System beschrieben, in dem die Grundstruktur dem Muster der Bundesrepublik folgt. Nicht nur der Mangel an substantiellen Studien zu den Angleichungsvorgängen in den sechs neuen Bundesländern, sondern auch der Mangel an eigenständigen politischen Impulsen Ostdeutschlands machen erschreckend deutlich, dass die Beschreibung eines politischen Systems in Deutschland noch nicht die Beschreibung gleichwertiger Systemteile bedeutet.




Neuere Literatur zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland


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