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Vorwort

Das vorhegende Handbuch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem das Werk Theodor Fontanes in der literarischen Welt Aufmerksamkeit und Anerkennung findet wie niemals zuvor. Das 100. Todesjahr 1998 hat auf eindrucksvolle Weise mit Feiern, Einweihungen, Publikationen (darunter so wichtige wie die vollständige Ausgabe des überlieferten Briefwechsels zwischen Fontane und seiner Frau), Ausstellungen, Konferenzen, Wettbewerben, Lesungen, Aufführungen, Sendungen in den Medien die Popularität dieses Schriftstellers in Forschung und Öffentlichkeit bestätigt. Allein der Ertrag der vom Theodor-Fontane-Archiv in Verbindung mit der Theodor Fontane Gesellschaft im September 1998 veranstalteten Konferenz in Potsdam füllt drei stattliche Bände. Aus Ringvorlesungen (an der Humboldt-Universität Berlin) und aus Symposien, die 1997/98 an mehreren Orten abgehalten wurden (so in Lübeck im Zusammenwirken von Thomas-Mann-Gesellschaft und Theodor Fontane Gesellschaft), gingen weitere Sammelbände hervor. Wenn auch die Betriebsamkeit des Gedenkjahres gelegentlich sogar ausdauernde Verehrer Fontanes etwas verwirren mochte, so bildet sie doch keinen isolierten Vorgang, sondern vielmehr den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. In einer Zeit veränderter Lesegewohnheiten, die gerade älterer Literatur nicht durchaus günstig war, ließ die sogenannte Fontane-Renaissance "Theodorus victor" zum gegenwärtig wohl bekanntesten deutschen Autor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erreichte diese Renaissance vermehrt auch den Raum der nicht im engeren Sinn literarischen Öffentlichkeit, wirkte im Bundesland Brandenburg verstärkend auf das Bewußtsein kultureller Identität und als Brücke der Wiederbegegnung für Menschen aus Ost und West.

Das seit den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg kontinuierlich gewachsene Verständnis für Rang und Bedeutung von Fontanes Werk steht in auffälligem Gegensatz zu der relativen Erfolglosigkeit zu Lebzeiten, unter der Fontane viele Jahre zu leiden hatte. Selbst der Erfolg seiner letzten Romane - wie das Tagebuch vermerkt, brachte es Effi Briest "in weniger als Jahresfrist zu fünf Auflagen" und erschien somit als "der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe" - muß anders bewertet werden, seit jüngst darauf aufmerksam gemacht wurde, daß es sich bei den vermeintlichen Neuauflagen zum Teil um Manipulationen des Verlegers handelte, die höhere Verkaufszahlen vortäuschen sollten. Nach 1945 sind die Werke Fontanes hingegen in Millionen von Bänden verbreitet worden, und wären sie noch tantiemenpflichtig, könnte der Autor, der finanzielle Sorgen erst ganz zuletzt abstreifen konnte, davon ein Luxusleben führen.

Die Herausgeber haben 22 ältere und jüngere Fontane-Forscher aus sieben Ländern (Australien, Deutschland, England, Irland, Niederlande, Polen und Schottland) eingeladen, mit ihnen eine umfassende Darstellung unseres heutigen Wissens über Fontane vorzulegen: von Fontanes Leben und Welt (Teil 1), von den kulturellen Traditionen, mit denen er sich auseinandergesetzt hat und seiner Ästhetik (Teil 2), von seinem Werk (Teil 3) und dessen Wirkung (Teil 4). Alle Beiträge des Handbuches sind in sich abgeschlossen und mit weiterführenden Literaturhinweisen versehen, können mithin auch einzeln benutzt werden.

Ein "Kompendium des 19. Jahrhunderts" (G. ERLER) ist das Werk des Märkers genannt worden. Seine Stoff- und Themenwelt erweist sich als sehr vielfältig. Fontane hat wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit unbefangen die verschiedensten literarischen Tätigkeiten ausgeübt. Der gelernte Apotheker war Lyriker und Balladier, versuchsweise auch Dramatiker, Übersetzer, echter und unechter Korrespondent (Reporter), politischer Journalist, Regionalhistoriker, Reise- und Kriegsschriftsteller, Theaterkritiker, Buch- und Ausstellungsrezensent, Lexikonartikler, Kurzgeschichtenschreiber und zuletzt Romancier. Zu einem beträchtlichen Teil waren diese Arbeiten reine Brotarbeit, aber unabhängig von ihrem unterschiedlichen literarischen Wert eröffnen sie in ihrer Gesamtheit ein faszinierendes Kultur- und Geschichtsbild seiner Zeit. Nimmt man die persönlichen, zu Fontanes Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Aufzeichnungen hinzu - Briefe, Tagebücher, Lektürenotizen, Protokolle des "Tunnels über der Spree" -, vergrößert sich noch die Zahl der Textsorten, deren er sich bediente. Durch ihre Eigengesetzlichkeit haben die verschiedenen literarischen Formen nicht zuletzt zu der oft bemerkten "Ambivalenz" seiner Urteile und Meinungen beigetragen. Das Handbuch, das der Komplexität von Fontanes Persönlichkeit und Werk Rechnung zu tragen hat, ist daher unter kulturellen, literarischen und politischen Aspekten in gewisser Weise zu einer tour d'horizon des "historischen Jahrhunderts" geworden, dessen zeitlieber Umriß mit den Lebensdaten des Dichters annähernd übereinstimmt.

Vollständigkeit kann das Handbuch allerdings nicht beanspruchen, und noch weniger war es die Absicht der Herausgeber, Mosaiksteine zu einer abschließenden Interpretation zu sammeln. Ungeachtet des Erscheinens mehrerer großangelegter Ausgaben nach 1945, von denen zwei abgeschlossen vorliegen, ist Fontanes Gesamtwerk noch nicht vollständig wieder erschienen beziehungsweise aus dem Nachlaß zum Druck gelangt; auch bibliographisch ist es nicht lückenlos erschlossen. Dies gilt besonders für Fontanes Korrespondenz, deren Gesamtausgabe aus guten Gründen bisher nicht begonnen wurde, denn noch immer werden verloren geglaubte oder auch bisher gänzlich unbekannte Briefe zugänglich. Der Umfang des journalistischen Werks ist, da vieles anonym oder unter nicht sicher bestimmbaren Siglen erschienen ist, nicht klar begrenzt und - weil gelegentlich in obskuren Blättern erschienen - möglicherweise zu einem kleineren Teil auch deswegen verloren, weil keine Exemplare der Zeitungen mehr existieren. Und ist wirklich ein Du hast recht getan betitelter Roman, den Fontane wie er in seiner im hohen Alter verfaßten Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig berichtet, "irgendwo gedruckt worden", obwohl sich doch Spuren davon nirgendwo gefunden haben? Ferner steckt die Erschließung der Vorstufen von Fontanes Romanen infolge des Fehlens einer historisch-kritischen Ausgabe noch in den Anfängen.

Diese notwendigen Hinweise auf bestehende Mängel sollen allerdings nicht den Eindruck erwecken, es sei beim gegenwärtigen Stand der Fontane-Edition noch unmöglich, ein Gesamtbild von Leben und Werk zu entwerfen. Davon kann nicht zuletzt wegen der ausgedehnten Forschung in den vergangenen Jahrzehnten kaum die Rede sein: Die wesentlichen Züge liegen fest und sind ungeachtet der bestehenden Lücken erkennbar. Nur muß der Benutzer des Handbuches berücksichtigen, daß sich die Fontane-Philologie weiterhin in lebhafter Bewegung befindet. Die halbjährlich in den Fontane-Blättern publizierte Bibliographie der Neuerscheinungen und Neuerwerbungen des Potsdamer Archivs - Handschriften, Werkausgaben, Forschungsliteratur, Zeitungsberichte und Rezensionen - füllt regelmäßig über zehn Seiten. Bei diesem Stand der Dinge kann der Zeitpunkt für den Redaktionsschluß des Handbuchs nur eine Orientierungshilfe für den Benutzer bilden; einen Ruhepunkt der Wirkungsgeschichte bezeichnet er nicht. Die notwendig gewordene Verschiebung des ursprünglich für 1998 geplanten Erscheinungstermins hat es jedoch ermöglicht, daß die umfangreiche Literatur, die in Fontanes 100. Todesjahr erschienen ist, zu einem großen Teil noch eingearbeitet werden konnte.

Die Herausgeber danken allen Beiträgem für ihre Mitarbeit, Geduld und die Bereitschaft, sich gelegentlich auch unter Hintanstellung eigener Interessen dem Konzept des Bandes anzupassen. Daß bei dem Projekt die nicht-deutschsprachige Germanistik eine nicht unbedeutende Rolle spielt, bestätigt die Ausführungen von Heien Chambers in ihrem Artikel über die westliche außerdeutsche Fontane-Rezeption und die Bedeutung der weltweiten Germanistik für die Fontane-Forschung schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts und besonders seit 1945.

Christian Grawe möchte der Fritz-Thyssen-Stiftung, Köln, für die finanzielle Unterstützung bei einem Forschungsaufenthalt in Deutschland 1994, dem Department of German and Swedish Studies, The University of Melbourne, für sein Entgegenkommen und Dr. Stephan Atzert, The University of Melbourne, für die Hilfe bei der computergemäßen Einrichtung der Manuskripte herzlich danken.

Nicht zuletzt danken die Herausgeber dem Alfred Kröner Verlag, im besonderen Frau Dr. Imma Klemm, für die verständnisvolle Geduld während der langen Entstehungszeit des Bandes und Unterstützung bei mannigfachen Sachfragen.

Christian Grawe, Melbourne
Helmuth Nürnberger, Hamburg