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Vorwort Mit der vorliegenden Literaturgeschichte wird erstmals der Versuch unternommen, die Geschichte sämtlicher Literaturen der skandinavischen Länder von den Anfängen bis heute in einem Band für ein deutschsprachiges Publikum darzustellen. Natürlich werden manche einwenden - unter ihnen auch einige der Beiträgerinnen und Beiträger selbst -, dass ein solches Unternehmen wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Denn einmal ganz abgesehen von der allgemeinen Methodenproblematik, die sich mit jeder (Literatur-)Geschichtsschreibung verbindet und die unten etwas näher im Hinblick auf die spezifische Situation der einzelnen skandinavischen Literaturen ausgeführt werden soll, stellt sich einem Unterfangen der hier angestrebten Art eine Reihe nur schwer überwindbarer Hindernisse entgegen: Ist der schiere Umfang der literarischen Texte nicht einfach viel zu groß für eine Darstellung in einem einzigen Band? Immerhin gilt es, rund 1200 Jahre literarischen Schaffens in dänischer, färöischer, finnischer, grönländischer, isländischer, norwegischer, saamischer und schwedischer Sprache zu behandeln, wozu für die einzelnen Nationalliteraturen jeweils eigene, umfangreiche Werke zur Verfügung stehen. Führt die durch den begrenzten Umfang notwendig gewordene Schwerpunktsetzung nicht automatisch zu einer unzulässigen Auswahl, die wichtige Texte und literarische Phänomene völlig außer Acht lassen muss, so dass die Darstellung nicht mehr den Anspruch erheben darf, eine Literaturgeschichte zu sein? Gibt es überhaupt so etwas wie eine "Skandinavische Literatur" und ist es beispielsweise legitim, so unterschiedliche Literaturen wie die schwedische und die grönländische, die färöische und die finnische in denselben Zusammenhang zu stellen? Ist mit anderen Worten - um Davids Perkins' vielzitierten Buchtitel Is Literary History Possible? (1992) abzuwandeln - eine solche Literaturgeschichte, ist diese Skandinavische Literaturgeschichte überhaupt möglich? Wenn der Herausgeber und die Beiträgerinnen und Beiträger trotz dieser Bedenken versucht haben, die Geschichte der skandinavischen Literaturen in einer komprimierten Darstellung zu behandeln, dann sind es zunächst in erster Linie pragmatische Erwägungen gewesen, die sie bewogen haben, sich auf ein solches Projekt einzulassen. Die Überlegungen, die zum vorliegenden Buch geführt haben, sind auf Grund mehrjähriger Erfahrungen im akademischen Unterricht entstanden: Obwohl das Interesse an der skandinavischen Literatur unter den Studierenden wie auch außerhalb der Universität beträchtlich ist, fehlen einführende Darstellungen auf Deutsch zur Zeit fast völlig. Die hier vorliegende Skandinavische Literaturgeschichte beschreibt die Entwicklung der Literaturen in den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Island, Färöer, Grönland unter Einschluss der saamischen Literatur von den Anfängen bis 2000. Dieses umfangreiche Material wird in acht große, chronologische Abschnitte unterteilt: Anfänge bis ca. 1500 (Wikingerzeit, Mittelalter); 1500-1720 (Frühe Neuzeit); 1720-1800 (Aufklärung); 1800-1870 (Romantik, Biedermeier, Poetischer Realismus); 1870-1910 (Moderner Durchbruch, Neuromantik); 1910-40 (Zwischenkriegsliteraturen); 1940-1980 (Modernismus); 1980-2000 (Gegenwartsliteraturen). Innerhalb dieser Epochen werden die Literaturen der drei zentralen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden sowie teilweise Islands nach Möglichkeit komparativ dargestellt, während die färöische, finnische, saamische und grönländische Literatur in eigenen Kapiteln behandelt werden. Die Berücksichtigung der literarischen Kulturen der Faringer sowie der Finnen, Saami und Grönländer, deren Texte nicht in nordgermanischen Sprachen verfasst sind, stellt eine der hauptsächlichen Neuerungen dieses Bandes dar. Besonderes Gewicht erhält die Darstellung der jüngsten Literatur mit benachbarten Kunstrichtungen, da hierzu kaum deutschsprachige Sekundärliteratur existiert und das Interesse gerade an diesen neuesten Entwicklungen allgemein sehr groß ist. Während es in Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland große, zusammenhängende Darstellungen der Geschichte der jeweiligen Nationalliteraturen aus neuerer Zeit gibt, ist eine isländische Literaturgeschichte noch immer nicht abgeschlossen und steckt die färöische Literaturgeschichtsschreibung ganz in den Anfängen; ebenso existieren nur kurze Überblicke über die Literaturen in saamischer und grönländischer Sprache. Ein kleiner Streifzug durch die Geschichte der skandinavischen Literaturgeschichtsschreibung kann diese Feststellung etwas perspektivieren. Die ersten Beschäftigungen mit Dichtung als historisches Faktum lassen sich in Dänemark und Schweden im 17. Jh. beobachten, als Gelehrte wie Albert Bartholin oder Johannes Schefferus bibliographische Verzeichnisse erarbeiteten. Zahlreiche andere Bibliographien über den Buchbestand in handschriftlicher Form stammen aus derselben Periode, z. B. von Olaus Sparrman, Elias Palmskiöld, Peder Terpager, Peder Syv, Jochum Halling usw. Eine erzählende, zusammenhängende Literaturgeschichte im engeren Sinn vermittelten diese lexikographischen Werke allerdings noch nicht. Erst gegen Ende des 18. Jh. entstanden auf der Grundlage dieser Vorarbeiten mit Rasmus Nyerups und K.L. Rahbeks Bidrag til den danske Digtekunsts Historie, I-IV (Beiträge zur Geschichte der dänischen Dichtkunst, 1800-08) die ersten "geschmacksästhetischen und patriotischen" und danach mit Bernard Severin Ingemanns, Johan Ludvig Heibergs, Christian Molbecks u.a. Werken die ersten "nationalen" Literaturgeschichten Dänemarks In Schweden war es vor allem der romantische Dichter P.D.A. Atterbom, der als erster Professor für Ästhetik in Uppsala eine philosophisch konzipierte Literaturgeschichte - Svenska siare och skalder (Schwedische Seher und Dichter, 1841-55) - vorlegte (vgl. auch das Kapitel "Romantik - Biedermeier - Poetischer Realismus" von Klaus Müller-Wille in diesem Band). Mitte des 19. Jh. markierte in Dänemark die Darstellung Bidrag til den danske Literaturs Historie, I-V (Beiträge zur Geschichte der dänischen Literatur, 1853-61) von N.M. Petersen einen ersten Höhepunkt der Literaturgeschichtsschreibung in nationalhistorischem Geist. Der Blick zurück auf die Geschichte der eigenen Literatur belegte, so Petersens Überzeugung, nachdrücklich, dass Dänemark einmal bessere Zeiten als die gegenwärtige erlebt hatte, so dass die Betrachtung der in der Literatur verankerten geistigen Taten einen wohltuenden Einfluss auf die eigene Generation haben würde. In der zeittypischen Koppelung von Volk, Muttersprache und Vaterland erhielt hier in Zeiten nationaler Krisen die Literaturgeschichtsschreibung eine kompensatorische, bestätigende und versichernde Aufgabe. Auch norwegische Wissenschaftler wie Hans Olaf Hansen, Den norske Literatur fra 1814 indtil vore Dage (Die norwegische Literatur von 1814 bis in unsere Tage, 1862), oder Lorentz Dietrichson, Omrids af den norske Poesis Historie, I-II (Skizze der norwegischen Poesie, 1866/69), figurierten Literaturgeschichte als einen "mythischen Verlauf". Um 1900 wurden dann - wie beispielsweise in Henrik Jægers Illustreret norsk Literaturhistorie, I-III (Illustrierte norwegische Literaturgeschichte, 1896) - jene Textkorpora in die nationalen Literaturgeschichten aufgenommen, die mehr oder weniger bis heute Bestand haben. Die geschichtliche Betrachtungsweise von Literatur setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. als herrschendes Paradigma in der Literaturwissenschaft an den skandinavischen Universitäten durch. So konnte Lars Lönnroth etwa den äußerst produktiven Uppsalienser Literaturhistoriker Henrik Schück als den eigentlichen "Vater der schwedischen Literaturgeschichtsschreibung" bezeichnen. Schück war zusammen mit Karl Warburg Autor der lange Zeit maßgeblichen Illustrerad svensk litteraturhistoria, I-IV (Illustrierte schwedische Literaturgeschichte, 1896, 21911; neue, überarbeitete Auflage, I-VI, 1926-30; dritte, vollständig überarbeitete Auflage 1952), die in der von E.N. Tigerstedt herausgegebenen Ny illustrerad svensk litteraturhistoria, I-V (Neue illustrierte schwedische Literaturgeschichte, 1955-66, 21967) eine ebenso wirkungsmächtige Nachfolgerin hatte. Die Entsprechungen zu Schück/Warburg waren in Dänemark Carl S. Petersens und Vilhelm Andersens Illustreret dansk litteraturhistorie, I-IV (Illustrierte dänische Literaturgeschichte, 1916-34) und in Norwegen Norsk litteraturhistorie, I-VI (Norwegische Literaturgeschichte, 1923-55, 21957-63) von Francis Bull, Fredrik Paasche, A. H. Winsnes, Philip Houm. Diese Darstellungen, die in ihrem Materialreichtum nicht mehr übertroffen worden sind - die dänische Literaturgeschichte von Petersen/Andersen umfasste z.B. gegen 4000 Seiten -, waren methodisch überwiegend entsprechend den in Skandinavien vorherrschenden Richtungen des Positivismus und des Biographismus geschrieben. Bis um die Mitte des 20. Jh. erhielten somit Dänemark, Schweden wie Norwegen große, bildungsbürgerliche Nationalliteraturgeschichten, die die Bedeutung der literaturhistorischen Traditionen hervorhoben und vor allem die älteren Perioden und die klassischen Werke und Autoren in den Mittelpunkt stellten. In diesem Zeitraum entstanden so in den jeweiligen Ländern kanonisierte Literaturgeschichten: großformatige Prachtwerke mit repräsentativem Charakter, die durchaus auch akademische, wissenschaftliche Ansprüche befriedigen sollten und oft mit ausführlichen Bibliographien versehen waren, methodisch das Spiegelbild der auf den männlichen Kanon ausgerichteten, bürgerlichen Literaturwissenschaft. Ab den 1960er Jahren lässt sich eine interessante neue, wiederum sehr zeittypische Entwicklung in der skandinavischen Literaturhistoriographie feststellen: Inhaltlich fand eine Hinwendung zu den aktuelleren Perioden der Literaturgeschichte statt und es wurden in viel größerem Umfang als zuvor Gegenwartsautorinnen und -autoren behandelt. Gleichzeitig verließ die Literaturgeschichte in den 60er und 70er Jahren den Elfenbeinturm. Die Bücher wurden in kleineren, handlichen Formaten herausgegeben, richteten sich mit einem populären, nicht-akademischen Stil gezielt auch an ein größeres Lesepublikum, verzichteten auf den gelehrten Apparat (Anmerkungen usw.), waren weniger textbeladen und materialreich, dafür umso umfassender bebildert. Dass diese "sozialdemokratischen" Literaturgeschichten auf ein beträchtliches Echo stießen, zeigen ihre große Auflagen. Die vom Kopenhagener Verlag Politiken herausgegebene Dansk litteraturhistorie, I-IV (Dänische Literaturgeschichte, 1964-66; neue, erweiterte Auflage, I-VI, 1976-77) erzielte schon 1967 eine 2. Auflage und brachte es rasch auf 60000 Exemplare. Ein norwegisches Pendant kam 1974-75 mit der von Edvard Beyer edierten Norges litteraturhistorie, I-VI (Norwegische Literaturgeschichte) heraus, wobei hier der Unterschied gegenüber Paasche/Bulls offiziöser älterer Literaturgeschichte besonders augenfällig war. Den svenska litteraturen, I-VII (Die schwedische Literatur), von Lars Lönnroth und Sven Delblanc herausgegeben (1987-90; I-III, 21990), war dann die erste Literaturgeschichte Skandinaviens, die in großem Ausmaß auf Farbillustrationen setzte und die neuen Möglichkeiten der Drucktechnik ausnützte; sie war in bester Weise popularisierend, in Bezug auf Materialfülle und Umfang wesentlich begrenzter als die älteren schwedischen Literaturgeschichten. In den einbändigen dänischen Litteratur-historier. Perspektiver på dansk teksthistorie fra 1620 til nutiden (Literatur-Geschichten. Perspektiven auf die dänische Textgeschichte von 1620 bis zur Gegenwart, 1994, 22004) von Jette Lundbo Levy u.a. wird Literaturgeschichte in Form eines Buches und eines Tonträgers vermittelt. Die in den 70er, 80er und 90er Jahren entstandenen Literaturgeschichten waren in der Regel sozial- und mentalitätshistorischen Paradigmen verpflichtet. Das herausragendste Beispiel ist Dansk Litteraturhistorie (Dänische Literaturgeschichte), die 1983-85 erschien und mit ihren neun Bänden eine Summe der materialistischen Literaturwissenschaft der 70er Jahre darstellte. Die radikalste Herausforderung an den literaturhistoriographischen Kanon stellten allerdings die seit den 80er Jahren erscheinenden Frauen- und Gender-Literaturgeschichten dar. In der von Elisabeth Møller Jensen herausgegebenen Nordisk kvindelitteraturhistorie, I-V (Nordische Frauenliteraturgeschichte, 1993-98) ist das große Gegenprojekt einer Geschichte der von Frauen geschriebenen Literatur in allen skandinavischen Ländern (inkl. sämtlicher kleinerer Sprachen) auf einem methodisch anspruchsvollen Niveau verwirklicht worden. In den letzten Jahren sind vor allem in Dänemark eine beachtliche Produktion von Literaturgeschichten und eine damit zusammenhängende theoretische Diskussion zu verzeichnen. Als Beispiele seien erwähnt das ambitionierte Vorhaben von Pil Dahlerup, als Alleinverfasserin die gesamte Entwicklung der dänischen Literatur in einer mehrbändigen, fortlaufenden Geschichte darzustellen (Dansk litteratur [Dänische Literatur], von der bisher die zwei Bände zum Mittelalter erschienen sind [1998]), eine von Jens Anker Jørgensen und Knud Wentzel herausgegebene komprimierte Geschichte unter dem Titel Hovedsporet. Dansk litteraturs historie (Die Hauptspur. Geschichte der dänischen Literatur, 2005) sowie jüngst eine umfassende, auf fünf Bände angelegte, zur Zeit noch im Entstehen begriffene Darstellung, Klaus P. Mortensen, May Schack (Hg.), Dansk litteraturs historie (Geschichte der dänischen Literatur, 2006-). Eine vor kurzem in Dänemark erschienene Festschrift trug den vielsagenden Titel "Der Kampf um die Literaturgeschichte". Mindestens zwei Aspekte sind an dieser literaturhistoriographischen Tätigkeit, wie sie vor allem in Dänemark zum Ausdruck kommt, erwähnenswert. Zum einen ist nach dem genannten historisch und soziologisch ausgerichteten Interesse der früheren Jahrzehnte methodisch eine deutliche "Rückkehr zur Literatur" zu konstatieren. P. Dahlerup beispielsweise hat für ihr Vorgehen den Begriff "New Literarity" geprägt und betont, dass Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung die Darstellung der spezifisch literarischen und künstlerischen Dimensionen von Literatur, also der "literarischen Energie", zu sein habe. Auch für den schwedischen Literaturhistoriographen Göran Hägg stehen in seiner einbändigen Den svenska litteraturhistorien (Die schwedische Literaturgeschichte, 1996) wieder "die literarischen Qualitäten des Textes im Zentrum". Norwegische Literaturgeschichten neueren Datums mit entsprechender Ausrichtung sind Norsk litteratur i tusen år. Teksthistoriske linjer (Norwegische Literatur während tausend Jahren. Texthistorische Linien) von Bjarne Fidjestøl u.a. (1994) und Norsk litteraturhistorie (Norwegische Literaturgeschichte) von Per Thomas Andersen (2001). In Norwegen ist seit Beyers achtbändiger Norges litteraturhistorie in den 70er Jahren keine größere Literaturgeschichte mehr erschienen. Der zweite für die augenblickliche Diskussion in Dänemark bezeichnende Aspekt ist der enge Zusammenhang, in dem diese Literaturgeschichten mit einer allgemeinen bildungspolitischen, vom dänischen Unterrichtsministerium in Gang gebrachten Debatte über einen für die Schulen verbindlichen Kanon an klassischer dänischer Literatur stehen. In der Auseinandersetzung um diesen "dänischen Literaturkanon" wird die Rolle, die der sehr eng gefassten literarischen Tradition für die Definition einer als nicht mehr gewährleistet empfundenen nationalen und kulturellen Eigenart zugeschrieben wird, mit Händen greifbar. Dass auch die literaturhistoriographische Tätigkeit in einem solchen politischen Umfeld erneut durchaus brisant sein kann, versteht sich von selbst. Die (übrigens noch nie untersuchte) Geschichte der deutschsprachigen Literaturgeschichtsschreibung ist demgegenüber naturgemäß weniger spektakulär und rascher abgehandelt. Als moderne Fremdsprachenphilologie und als eigenständiges Universitätsfach konstituierte sich die Nordistik oder Skandinavistik eigentlich erst in den 1960er und 70er Jahren. Seither hat sich das Schwergewicht innerhalb des Faches, das zuvor in der Mediävistik gelegen hatte, in markanter Weise auf die neuere skandinavische Literaturwissenschaft verlagert. Für den Bereich der skandinavistischen Mediävistik (Altnordistik) sind als wichtigste literaturgeschichtliche Arbeiten in deutscher Sprache zu nennen Eugen Mogks im Grundriss der germanischen Philologie erschienene Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur (1893, 21904), Jan de Vries" Altnordische Literaturgeschichte (1941-42, 21964-67, ebenfalls im Grundriss der germanischen Philologie, '1999), Jónas Kristjánssons Eddas und Sagas. Die mittelalterliche Literatur Islands (1984), eine Übersetzung aus dem Isländischen, und schließlich Heiko Ueckers "kurzgefasste" Geschichte der altnordischen Literatur in Reclams Universal-Bibliothek (2004). Die erste gesamtskandinavische Literaturgeschichte auf Deutsch, die auch die neueren Epochen berücksichtigt, legte der Jenaer Nordist Philipp Schweitzer mit der dreibändigen Darstellung Geschichte der skandinavischen Litteratur (1886-89) vor. Schweitzer, u.a. mit Ibsen persönlich bekannt, war ein hervorragender Kenner vor allem der norwegischen und isländischen Literatur des 18. und 19. Jh. und hatte seine äußerst materialreiche, dafür stark lexikographisch-reihende Literaturgeschichte von über 900 Seiten im Rahmen eines vierjährigen Aufenthalts in den nordischen Ländern verfasst. Sein Werk behandelt schwerpunktmäßig die aktuelle skandinavische Literatur des 19. Jh. und geht auch in kurzen Abschnitten auf die finnische und die färöische Literatur ein. Eine weitere Literaturgeschichte aller skandinavischen Länder stammt von der Lundenser Literaturhistorikerin Hilma Borelius; ihre für das Handbuch der Literaturwissenschaft geschriebene Darstellung Die nordischen Literaturen (1931) ist der biographisch-psychologischen Methode verpflichtet. Die populäre und anekdotisch gehaltene "Geschichte des skandinavischen Schrifttums von den Runen bis zur Gegenwart", die Heinz Barüske unter dem Titel Die Nordischen Literaturen (1974) herausgab, kam über einen ersten Band nicht heraus. Ein von Horst Bien herausgegebenes Taschenlexikon Nordeuropäische Literaturen (1980) enthält nützliche kurze Überblicke über die nordeuropäischen Literaturen, stellt jedoch keine literaturhistorische Darstellung im eigentlichen Sinn dar. 1982 erschien das zweibändige Werk Nordische Literaturgeschichte, bei dem es sich um die deutsche Übersetzung der vom dänischen Literaturhistoriker Mogens Brøndsted herausgegebenen Darstellung Nordens litteratur (Die Literatur des Nordens) handelt, an der Fachleute aus allen nordischen Ländern mitwirkten. Brøndsteds Literaturgeschichte war wesentlich dem Gedanken der nordischen Kulturzusammenarbeit verpflichtet. Im gleichen Jahr kam mit der ersten Auflage der von Fritz Paul edierten Gründzüge der skandinavischen Literaturen (21991) jene Literaturgeschichte heraus, die das Standardwerk für den akademischen Unterricht in den letzten 25 Jahren gewesen ist. Die von einer Gruppe von sieben deutschsprachigen Skandinavisten verfassten Grundzüge stellen die Geschichte der Literaturen Dänemarks, Islands, Norwegens und Schwedens seit der Reformation dar; die Literaturen in finnischer, saamischer und grönländischer Sprache und das nordische Mittelalter werden in dieser Literaturgeschichte, die in die Endphase der Etablierung der Neuskandinavistik an den deutschsprachigen Universitäten fiel, nicht berücksichtigt. Ein Blick über die Grenzen des deutschen Sprachgebietes hinaus zeigt, dass auch in anderen Ländern die Situation sehr heterogen ist: Auf Französisch verfasste Régis Boyer noch 1996 eine Histoire des Littérature scandinaves in einem Band, während von einer großen amerikanischen Reihe von Histories of Scandinavian Literature (Hauptherausgeber Sven H. Rossel) bisher vier umfangreiche, nach Nationalliteraturen getrennte Bände zur Geschichte der dänischen, finnischen, norwegischen und schwedischen Literatur erschienen sind (1992-98). Die Skandinavische Literaturgeschichte setzt sich wie erwähnt zum Ziel, die Literaturen aller skandinavischen Länder in der historischen Dimension zu beschreiben. Um das zu erreichen, muss sie die Heterogenität, die Vielfalt und die Ungleichzeitigkeit dieser literarischen Traditionen in den Vordergrund rücken und zum Thema der Darstellung machen. Wenn auch die von außen angelegte Sicht auf einen literarischen Raum vielleicht geeignet ist, große Linien herauszustellen, so heißt dies nicht, dass damit die Unterschiede zwischen den einzelnen Literaturen verwischt werden sollen. Eine homogenisierende Darstellung mit vereinheitlichenden Gesichtspunkten ist nicht angestrebt, vielmehr werden die Literaturen in ihrem Zusammenwirken, Miteinander und Gegeneinander beschrieben. Zugleich wird allerdings die literarische Überlieferung nicht in eine Reihe bezugslos nebeneinander existierender Nationalliteraturen aufgelöst. Wo dies angemessen, sinnvoll und möglich ist (etwa im 19. Jh.), stellen die einzelnen Kapitel komparatistische Querbezüge her; in anderen Fällen drängt sich eine getrennte Behandlung der einzelnen Literaturen zu gewissen Zeitpunkten auf (18. Jh.) oder bestimmte Nationalliteraturen werden ganz für sich behandelt (Finnland, Färöer, Grönland, Saamisch). Die heterogenen, aber vergleichbaren Literaturen Skandinaviens erfordern unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und methodische Zugangsweisen, was auf verschiedene Phänomene aufmerksam machen kann. Beispielsweise stellt sich im Fall der Literatur Finnlands, die sowohl auf Finnisch wie auf Schwedisch geschrieben wird (wozu das Saamische noch hinzukommt), die Frage nach dem Verhältnis von national abgegrenzter Literatur (und damit Literaturgeschichte) und Sprache: Zählen die Schwedisch schreibenden Autorinnen und Autoren der finnlandschwedischen Minderheit Finnlands zur finnischen oder zur schwedischen Literatur bzw. zu beiden oder zu keiner von beiden? Die neue große Geschichte der finnlandschwedischen Literatur, Finlands svenska litteraturhistoria, I-II (Finnlands schwedische Literaturgeschichte, 1999/2000), geht hier den letzteren Weg. Im vorliegenden Band werden demgegenüber finnlandschwedische Autoren wie Franzén, Creutz, Södergran, Diktonius zusammen mit der (reichs-)schwedischen Literatur behandelt, also eher sprachliche Kriterien angelegt (vgl. dazu auch die einführenden Überlegungen von Stefan Moster im Beitrag "Finnische Literatur"). Auch die Einbeziehung der kleineren nordischen Literaturen wie der saamischen hebt viele Unentscheidbarkeiten, mit der sich die Literaturhistoriographie konfrontiert sieht, hervor. Die saamische Literatur kann nämlich nicht national definiert werden, sondern wird zugleich in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland geschrieben, gehört also zur Kultur einer ethnischen Minorität in verschiedenen Ländern, was zum Problem ihrer Einbzw. Ausgrenzung in Bezug auf die jeweiligen nationalliterarischen Textkorpora führt. Die färöische und die grönländische Literatur zeigen über ihre eigenen Fälle hinausweisende Problematiken von Kulturen auf, die sich in postkolonialen Situationen befinden: Wie verhält sich ihre oft zweisprachige Literaturtradition zu der des Mutterlandes? Fragen dieser Art lassen sich hier natürlich nicht lösen, sie werden in den folgenden Kapiteln jedoch immerhin angesprochen und problematisiert. Hoffentlich zeigt die Lektüre, dass der erstmalige Versuch, diese bisher noch nie beschriebenen Literaturen im Rahmen einer skandinavischen Literaturgeschichte zu integrieren, insofern geglückt ist, als gerade sie dazu beitragen können, einige grundsätzliche Aspekte der historischen Entwicklung der Literaturen in den skandinavischen Ländern klarer zu fokussieren. Was Auswahl und Darstellungsweise betrifft, so sind diese primär von den gewählten Schwerpunktsetzungen der Beiträgerinnen und Beiträger in ihren Kapiteln bestimmt, sie sind aber auch durch den äußeren Rahmen vorgegeben. Allein schon aus Platzgründen ist das Buch nicht lexikographisch, sondern repräsentativ und selektiv ausgerichtet. Reine Nennungen von Namen oder Werken, die nicht vertieft werden können, finden sich kaum. Stattdessen geht es um exemplarische Behandlungen einzelner Aspekte, während manchmal auch wichtige Werke und Autoren und u.U. ganze Strömungen bewusst ausgelassen sind. Man darf von der vorliegenden Darstellung also nicht eine bloße Faktenvermittlung erwarten; als handbuchartiges Nachschlagewerk, das den Gesamtbestand der nordischen Literaturen aufarbeiten würde, kann es nicht dienen. Vielmehr liegt der Akzent dieser Literaturgeschichte auf der diskursiven Erörterung ausgewählter, allerdings als wichtig und interessant erachteter Phänomene. Neben raschen Überblicken über ganze Epochen mit einigen wenigen Stichwörtern stehen konzentrierte Behandlungen ausgewählter Passagen, in denen auch (teilweise neue) Textdeutungen vorgenommen werden, so dass bestimmte Aspekte anders als bisher in den Vordergrund treten können. Vor allem in den Abschnitten, die sich mit der aktuellen Literatur Skandinaviens beschäftigen, müssen rigorose Selektionen vorgenommen werden. Das von Antje Wischmann verfasste Kapitel "Gegenwart" zeigt beispielsweise einige einleitend benannte Linien auf und wählt die behandelten Werke strikt aufgrund dieser Linien aus. Bereiche, die aus diesen Gründen gar nicht oder nur ansatzweise behandelt werden, sind etwa die in fremden Sprachen (Lateinisch, Deutsch, in den letzten Jahren und Jahrzehnten vermehrt Migrantensprachen) verfasste Dichtung oder die Kinder- und Jugendliteratur, auf die es zwar immer wieder einzelne Hinweise gibt, die aber doch nicht in der gebotenen Ausführlichkeit dargestellt werden kann und eigentlich eine eigene Behandlung erforderte. In vielen Fällen wird die Auswahlbibliographie am Ende des Bandes helfen, Lücken zu schließen und Vertiefungen vorzunehmen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Ausarbeitung dieser Literaturgeschichte bestand darin, dass sie auf verschiedene Erwartungen und Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen hat. Der Notwendigkeit, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern vermutlich über weite Strecken unbekannte Namen und Werke erstmals vorzustellen, kollidierte manchmal mit dem Wunsch der Beiträgerinnen und Beiträger - die zudem vor die Herausforderung gestellt waren, einen Text ohne Fußnoten zu schreiben - nach Problematisierung und Differenzierung der besprochenen Fragen. Die Darstellung sollte einerseits einem nicht-spezialisierten Publikum zugänglich und andererseits doch auf einem auch gegenüber den Fachkollegen vertretbaren Forschungsstand gehalten sein. Die erwähnten Schwierigkeiten, die Geschichte von sechs Nationalliteraturen von den Anfängen bis heute mit Ausblicken auf zwei emergent literatures im Rahmen eines einzigen Bandes darzustellen, ließen sich insofern etwas relativieren, als sich gerade in der deutschsprachigen Skandinavistik eine Blickweise auf die Gemeinsamkeiten und eine Gewohnheit zur komparatistischen Betrachtung der skandinavischen Literaturen herausgebildet hat. Dieser Darstellung liegt kein Konzept einer literarhistorischen Entwicklungslogik zugrunde, eine finalistisch-teleologische Argumentation, die das Neue notwendig als die konsequente Folge des Alten sieht, konnte hoffentlich in den meisten Fällen vermieden werden, und der Titel Skandinavische Literaturgeschichte ist auch nicht so zu verstehen, dass hier die eine verbindliche Darstellung der Geschichte der skandinavischen Literatur vorgelegt würde. Vielmehr ist er zu denken als (eine) Geschichte der skandinavischen Literaturen, wobei der Plural auf die Mehrzahl von nationalen Literaturen in Nordeuropa und auf die unterschiedlichen Literaturen innerhalb dieser selbst abzielt. Gegenüber zahlreichen früheren, auch deutschsprachigen, Darstellungen sind die hier angewendeten literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen nicht biographistisch oder sozialgeschichtlich, sondern orientieren sich an den methodischen und konzeptionellen Möglichkeiten, die die literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre erbracht haben. Auf diese Weise sollte gewährleistet sein, dass neben den großen Texten der Klassiker, die es natürlich zu beschreiben gilt, auch andere, weniger bekannte Phänomene wahrgenommen werden, so dass sich die Darstellung nicht lediglich als Abfolge kanonisierter Werke liest, sondern möglichst facettenreiche und differenzierte Einblicke in das literarische Geschehen zu unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Ländern vermittelt. Eine methodische Klammer, die verschiedene Kapitel miteinander verbindet, ließ sich beispielsweise durch den Aspekt der Medialität herstellen. Die Erkenntnisse der neueren postkolonialen Studien sind in einzelnen Kapiteln auf die "neuen" Literaturen angewendet worden, was entsprechende Quervergleiche ermöglicht. Der Verzicht auf das biographische Beschreibungsmuster hat dazu geführt, dass in mehreren Fällen das Werk eines Autors in verschiedenen Kapiteln behandelt wird (etwa Ibsen, Strindberg, Hamsun, Laxness, Inger Christensen). Hier lassen sich neben unterschiedlichen Schreibtemperamenten auch zugleich die verschiedenen Vorgehensweisen beobachten, was - durchaus ein Abbild des augenblicklichen Methodenpluralismus in der Literaturwissenschaft - eher ein Vorzug denn ein Nachteil einer von mehreren Verfasserinnen und Verfassern geschriebenen Literaturgeschichte ist. So schlägt sich hoffentlich die Kontingenz der literaturhistoriographischen Praxis in den einzelnen Kapiteln selbst nieder. Periodisierung ist nicht ein vordringliches Interesse dieser Literaturgeschichte, zumal die üblicherweise vorgeschlagenen Periodisierungen für die kleineren Literaturen ohnehin meist unbrauchbar sind. In der Regel werden hier größere zeitliche Einheiten als in früheren Literaturgeschichten mengefasst, etwa wenn für den Zeitraum 1500-1720 keine Trennung in Humanismus/Reformation und Barock vorgenommen oder wenn die Phase 1870-1910 als Einheit behandelt wird. Die Kapitel sind der einfacheren Orientierung halber mit traditionellen Begriffen wie "Mittelalter" oder "Romantik - Biedermeier - Poetischer Realismus" überschrieben, auch auf die Gefahr des Missverständnisses hin, dass hier eine repräsentative Literaturgeschichte entsprechend älteren Kanonkonzeptionen geschrieben würde. Literaturgeschichtliche Kontingenz wird nirgends augenfälliger als bei der Periodisierung und bei den Epochenbezeichnungen. Es ist unvermeidlich, dass eine Literaturgeschichte immer auch kanonisierende Funktionen hat. Die in diesem Vorwort und in den einzelnen Kapiteln vorgenommenen Relativierungen und Kontextualisierungen sowie die Hinweise auf andere literaturwissenschaftliche und -geschichtliche Hilfsmittel in der Bibliographie sollten aber deutlich machen, dass die hier vorgelegte Literaturgeschichte nur eine von vielen möglichen Darstellungen der Geschichte der skandinavischen Literaturen ist: Sie will nicht vorgeben, eine vollständige und systematische Behandlung des gewaltigen Stoffes bieten zu können, und sie ist ständig darum bemüht, Verweise auf anderes zu machen. Die Rede vom Versuchscharakter, der diesem Werk eignet, ist mehr als eine Floskel und durchaus ernst gemeint. Dem vorliegenden Projekt haftet etwas Unfertiges und Nicht-Endgültiges an, eine gewisse Vorläufigkeit, mit der heute Literaturgeschichten geschrieben werden und die Pil Dahlerup auf die Formel gebracht hat, dass "alles immer anders gemacht werden kann". Eine solche gewollte und keineswegs nur der Umfangsbegrenzung geschuldete Unabgeschlossenheit der Darstellung, die sowohl die methodischen Zugangsweisen wie die thematische Auswahl in den einzelnen Abschnitten bestimmt, kann - dies war zumindest die Hoffnung derer, die das Projekt getragen haben - das Prozesshafte und die Dynamik von Literatur in ihren spezifischen historischen Ausdifferenzierungen vielleicht am besten beschreiben. Wenn die Skandinavische Literaturgeschichte auf dieser Basis zur Beschäftigung mit der faszinierenden Vielfalt der vergangenen und gegenwärtigen literarischen Kulturen in Skandinavien anzuregen vermag, ist eines der Hauptziele von Herausgeber und Beiträgerinnen und Beiträgern erreicht. Der Nordische Ministerrat (Kopenhagen), die Philosophische Fakultät der Universität Zürich, die Freiwillige Akademische Gesellschaft (Basel), und die Max Geldner-Stiftung (Basel), haben durch großzügige Zuschüsse in dankenswerter Weise die Erarbeitung und den Druck des vorliegenden Bandes ermöglicht. Die Passagen über die isländische Literatur im Kapitel "Die Moderne im Durchbruch" von Annegret Heitmann entstanden in Zusammenarbeit mit Benedikt Hjartarson. Simone Bobst, Anna Katharina Dömling und Simone Ochsner haben in unterschiedlichen Phasen der Arbeiten bei der Übersetzung, Redigierung, Bildbeschaffung wertvolle Hilfe geleistet. Mit Akribie und unermüdlichem Einsatz sind die Endredaktion, Korrektur und Erstellung des Registers von Franziska Kreis besorgt worden. Dr. Oliver Schütze hat als zuständiger Lektor des Verlags auch diesen Band der Metzler Literaturgeschichten von Anfang an kompetent, engagiert und mit ruhiger Beharrlichkeit begleitet. Als Herausgeber danke ich ihnen allen sehr herzlich, denn ohne ihre tatkräftige Unterstützung hätte das Buch nicht in dieser Form entstehen können.
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