Straße der Wunder (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 2. Auflage
736 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60714-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Straße der Wunder -  John Irving
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Juan Diego und seine für alle anderen unverständlich sprechende Schwester Lupe sind Müllkippenkinder in Mexiko. Ihre einzige Überlebenschance: der Glaube an die eigenen Wunderkräfte. Denn Juan Diego kann fliegen und Geschichten erfinden, Lupe sogar die Zukunft voraussagen, insbesondere die ihres Bruders. Um ihn zu retten, riskiert sie alles. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: zwei junge Migranten auf der Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur.

John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ?Gottes Werk und Teufels Beitrag?.

John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹.

{11}1 Verlorene Kinder


Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarstellen: »Ich bin Mexikaner – ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.« In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: »Ich bin Amerikaner – ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.« Oder er sagte, um der Nationalitätenfrage aus dem Weg zu gehen: »Ich bin aus dem Mittleren Westen – genauer gesagt: aus Iowa.«

Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. Juan Diego war vielmehr der Ansicht, dass die Leute ständig nach Gemeinsamkeiten in der mexikanisch-amerikanischen Erfahrungswelt suchten und er in seiner eigenen Erfahrungswelt keinen gemeinsamen Nenner erkannte; genauer gesagt, er suchte gar nicht danach.

Stattdessen sagte Juan Diego, er habe zwei Leben geführt – getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich. Die mexikanische Erfahrungswelt war sein erstes Leben, seine Kindheit und frühe Jugend. Nachdem er Mexiko verlassen hatte – und nie zurückgekehrt war –, hatte er ein zweites Leben begonnen, in einer amerikanischen Erfahrungswelt, einer im Mittleren Westen. (Oder wollte er damit auch sagen, dass sein zweites Leben relativ ereignislos verlaufen war?)

{12}Doch Juan Diego betonte immer, er habe diese beiden Leben in seinem Kopf – oder jedenfalls in seiner Erinnerung, aber auch in seinen Träumen – »doppelgleisig« gelebt und nachgelebt.

Eine gute Freundin Juan Diegos, die auch seine Ärztin war, zog ihn wegen dieser »Doppelgleisigkeit« regelmäßig auf. Sie gab ihm zu verstehen, entweder sei er immerzu ein mexikanischer Junge oder ein Erwachsener aus Iowa. Auch wenn Juan Diego sonst nur wenig unwidersprochen ließ, so hatte er ihr in dieser Frage doch beigepflichtet.

 

Ehe die Betablocker seine Träume beeinträchtigten, hatte Juan Diego seiner Ärztin erzählt, er sei immer während des »harmlosesten« seiner wiederkehrenden Alpträume aufgewacht. Bei diesem Alptraum handelte es sich eigentlich um eine Erinnerung an den schicksalsträchtigen Morgen, als er zum Krüppel wurde. Und harmlos war auch nur der Anfang dieses Alptraums oder dieser Erinnerung. Es geschah in Oaxaca, Mexiko, auf dem Gelände der städtischen Müllkippe im Jahre 1970 – als Juan Diego vierzehn war.

In Oaxaca war er ein sogenanntes Müllkippenkind gewesen (un niño de la basura) und hatte in einer Hütte in Guerrero gewohnt, der Siedlung für Familien, die auf der Deponie (el basurero) arbeiteten. 1970 lebten nur zehn Familien in Guerrero. Damals hatte die Stadt Oaxaca etwa 100000 Einwohner; viele von ihnen wussten nicht, dass das Sammeln und Sortieren der Gegenstände auf dem basurero hauptsächlich von den Müllkippenkindern erledigt wurde. Sie hatten die Aufgabe, Glas, Aluminium und Kupfer vom übrigen Müll zu trennen.

{13}Wer wusste, was die Kinder dort machten, nannte sie los pepenadores – »die Müllsammler«. Und das war Juan Diego mit vierzehn: ein Müllkippenkind, ein Müllsammler. Doch der Junge war auch ein Leser; es sprach sich herum, dass ein niño de la basura sich selbst das Lesen beigebracht hatte. In der Regel waren Müllkippenkinder nicht die eifrigsten Leser, und junge Leser, egal, welcher Herkunft und welchen Hintergrunds, sind selten Autodidakten. Deshalb sprach es sich herum, und so hörten die Jesuiten, die so großen Wert auf Bildung legen, von dem Jungen aus Guerrero. Die beiden alten Jesuitenpriester im Templo de la Compañia de Jesús (dem Tempel der Gesellschaft Jesu) nannten Juan Diego den »Müllkippenleser«.

»Jemand sollte dem Müllkippenleser ein paar gute Bücher bringen – Gott weiß, was der Junge auf seiner Halde für Lesestoff findet!«, sagte entweder Pater Alfonso oder Pater Octavio. Immer, wenn einer der beiden alten Priester »jemand sollte« sagte, dann war Bruder Pepe derjenige, der es tat. Und Pepe war ein Vielleser.

Denn Bruder Pepe hatte ein Auto – und weil er aus Mexico City kam, fiel ihm das Autofahren in Oaxaca relativ leicht. Pepe war Lehrer an der Jesuitenschule; sie war schon lange eine angesehene Schule – jeder wusste, dass die Gesellschaft Jesu gut darin war, Schulen zu betreiben. Das jesuitische Waisenhaus allerdings war recht neu (das ehemalige Kloster war erst in den sechziger Jahren umgebaut worden), und nicht alle fanden den Namen dieses Waisenhauses gelungen; manche hielten Hogar de los Niños Perdidos für zu lang und für ein wenig streng.

Doch Bruder Pepes Herz gehörte der Schule und dem {14}Waisenhaus; im Laufe der Jahre mussten die meisten zartbesaiteten Seelen, denen der Klang des Namens »Heim der verlorenen Kinder« nicht gefiel, zugeben, dass die Jesuiten auch ein ziemlich gutes Waisenhaus betrieben. Außerdem nannten es die Leute sowieso nur noch »Verlorene Kinder«. Eine der Nonnen, die sich um die Kinder kümmerten, war in dieser Hinsicht direkter; bestimmt bezog sich Schwester Gloria nur auf einige besonders aufsässige Kinder, nicht auf alle Waisen, wenn sie gelegentlich »los perdidos« – die Verlorenen – murmelte.

Glücklicherweise brachte nicht Schwester Gloria dem jungen Müllkippenleser die Bücher auf die Deponie; hätte Gloria die Bücher ausgewählt und zugestellt, wäre Juan Diegos Geschichte vielleicht schon zu Ende gewesen, ehe sie begann. Doch für Bruder Pepe hatte Lesen einen besonderen Stellenwert; er war Jesuit, weil die Jesuiten ihn zu einem Leser gemacht und ihm Jesus nahegebracht hatten, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Man fragte Pepe besser nicht, ob Lesen oder Jesus ihn gerettet hatten, und was bei seiner Rettung die größere Rolle gespielt hatte.

Mit fünfundvierzig war er zu dick – »eine Figur wie eine Putte, wenn auch kein himmlisches Wesen«, wie Bruder Pepe sich selbst beschrieb.

Pepe war der Inbegriff von Güte; er verkörperte jenes berühmte Mantra der heiligen Teresa von Ávila, das in seinen täglichen Gebeten immer an erster Stelle stand: »O Herr, bewahre uns vor törichter Andacht und sauertöpfischen Heiligen!« Dieses Gebet der Teresa von Ávila gefiel Pepe am allerbesten. Kein Wunder, dass die Kinder ihn mochten.

Bruder Pepe war nie zuvor auf der Müllkippe von {15}Oaxaca gewesen. Damals verbrannte man dort alles Brennbare; überall loderte es. (Bücher waren praktische Feueranzünder.) Als Pepe aus seinem VW Käfer stieg, passten der Gestank der Müllkippe und die Hitze der Feuer zu seiner Vorstellung von der Hölle – nur wäre er nie auf die Idee gekommen, dass in der Hölle Kinder arbeiteten.

Auf dem Rücksitz des Käfers lagen einige sehr gute Bücher; gute Bücher waren der beste Schutz vor dem Bösen, den Pepe je in Händen gehalten hatte; den Glauben an Jesus konnte man nicht in Händen halten, jedenfalls nicht so wie gute Bücher.

»Ich suche den Leser«, sagte Pepe zu den Deponiearbeitern, sowohl den Erwachsenen als auch den Kindern; der Blick, mit dem los pepenadores Pepe bedachten, ließ erkennen, wie gering sie das Lesen schätzten. Eine Erwachsene sprach zuerst – sie war vielleicht in Pepes Alter oder ein wenig jünger, wahrscheinlich die Mutter des einen oder anderen Müllkippenkindes. Sie sagte Pepe, er solle Juan Diego in Guerrero suchen, in der Hütte von el jefe.

Bruder Pepe war verwirrt; vielleicht hatte er sie falsch verstanden. El jefe war der Deponiechef, der Boss der Müllkippe. War der Leser der Sohn des Chefs?, fragte Pepe die Arbeiterin.

Etliche Müllkippenkinder lachten, dann wandten sie sich ab. Die Erwachsenen fanden es weniger lustig, und die Frau sagte nur: »Nicht wirklich.« Sie deutete in Richtung Guerrero, wo die Hütten aus dem errichtet worden waren, was die Arbeiter auf der Müllkippe gefunden hatten. Guerrero war eine Deponiesiedlung; sie schmiegte sich an einen Hügel unter dem basurero, die Hütte des Chefs lag {16}ganz am Rand – in dem Teil, der der Deponie am nächsten war.

Schwarze Rauchsäulen standen über der Müllkippe wie gen Himmel ragende finstere Pfeiler. Hoch oben kreisten Geier, doch Pepe sah, dass es auch unten Aasfresser gab. Überall auf der Kippe waren Hunde, die den Höllenfeuern auswichen, den Männern in Lastwagen aber nur widerwillig Platz machten und sonst fast keinem. Für die Kinder waren diese Hunde bedrohliche Konkurrenz, auch sie durchsuchten den Müll – wenn auch nicht nach den gleichen Dingen. (Die Hunde interessierten sich nicht für Glas, Aluminium oder Kupfer.) Die meisten waren natürlich Streuner, und manche hatten nicht mehr lange zu leben.

Pepe blieb nicht lange genug, um die toten Hunde zu entdecken oder herauszufinden, was mit ihnen geschah; sie wurden verbrannt, doch manchmal erst, nachdem die Geier sie gefunden hatten.

Am Fuß der Halde, in Guerrero, sah Pepe noch mehr Hunde. Die Bewohner hatten sie zu sich genommen, und Pepe fand, sie sähen wohlgenährter aus und zeigten ein ausgeprägteres Revierverhalten. Sie glichen mehr den Hunden, die man in jeder beliebigen Wohngegend antraf; sie waren reizbarer und aggressiver als die Kippenhunde, die eher unterwürfig oder verstohlen herumschlichen, ihr Revier aber auf eine durchtriebene Art verteidigten.

Man sollte sich lieber nicht von einem Hund auf der Müllkippe beißen lassen, auch nicht von einem in Guerrero, da war sich Pepe ziemlich sicher, schließlich kamen die...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2016
Übersetzer Hans M. Herzog
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Behinderter Held • Bestseller • Bibliothek • Eltern • Erinnerung • Fremdsein • Heimat • Hellsehen • Homosexualität • Homosexuell • LGBT • LGBTQ • Liebespaar • Mexiko • Migranten • Philippinen • Wahrsagen • Zirkus
ISBN-10 3-257-60714-8 / 3257607148
ISBN-13 978-3-257-60714-7 / 9783257607147
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