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VORWORT



In dem Titel "Kritik der interkulturellen Vernunft" liegt der hohe Anspruch, den Zimmermann sich selbst stellt. Obwohl er eher mit der Diskussion einiger klassischer Ansätze zum Thema beginnt, entwickelt er durch seine methodologisch gut untermauerten feinen Unterscheidungen einen Begriff der interkulturellen Vernunft, der die Wahrnehmung der Welt und deren Modellierung miteinander vernetzt, um so den Begriff der Kommunikation methodologisch, systematisch und grundlagentheoretisch tragfähig zu verankern.

Das zentrale und bedeutsame Anliegen dieser gerade für das heutige Philosophieren so wichtigen Studie ist eine methodologisch-hermeneutische Fundierung der Philosophie im Vergleich der Kulturen. Die Welt der Philosophie kennt mehr als nur eine Kultur der Philosophie. Zimmermann entwickelt eine adäquate Theorie des interkulturellen Philosophierens, die der heutigen de facto hermeneutischen Situation entspricht. Ein solcher interkulturell orientierter Ansatz einer hermeneutischen Philosophie muß die Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Methoden, Begriffe, Auffassungen, Kategorien und Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch unveränderliche apriorische und essentialistische Größen darstellen.

In der ehrwürdigen Tradition der "Kritik der Kritik" gibt Zimmermann dieser Schrift den Titel "Kritik der interkulturellen Vernunft", wobei zu beachten ist, daß hier die interkulturelle Vernunft nicht so sehr im Sinne eines "genitivus objectivus", sondern vielmehr im Sinne eines "genitivus subjectivus" in Erscheinung tritt. Die interkulturelle Vernunft verankert sich dabei nicht essentialistisch, aprioristisch oder bloß transzendental, sondern empiristisch-interkulturell. Dies bedeutet, daß der Geist der Empirie stets am Werke ist und die Konzeption einer totalen Identität und die einer völligen Differenz als selbstverschuldete Unifizierungstendenzen entlarvt. Die Einführung einer solchen interkulturellen Vernunft hilft uns, die beiden Fiktionen einer totalen Kommensurabilität und einer radikalen Inkommensurabilität unter den Philsophien und Kulturen zurückzuweisen. Die in der Vorrede erwähnten fünf Punkte machen dies überzeugend deutlich.

Das Phänomen der Interkulturalität wird als ein Spezialfall - und dies zu Recht - der allumfassenden Vermittlungsproblematik begriffen. Dabei wird eine Verbindung zur Intersubjektivität hergestellt. Dies hat dann zur Folge, daß es hier um eine Diskurstheorie geht, die zwar die Wünschbarkeit des Konsenses nicht in Abrede stellt, aber den Konsens weder identitätstheoretisch noch bloß formal-prozedural begreift. Worauf es dann ankommt, sind die perspektivisch in Sicht genommenen wechselseitigen Vernetzungen, die als dynamische Überlappungen Kommunikation und Verständigung theoretisch begründen und praktisch ermöglichen.

Zimmermann lehrt uns, daß Alternativen als Alternativen ernst zu nehmen sind, und sie dürfen nicht reduktiv traktiert werden. Diese Schrift ist ein gelungener Versuch, eine strenge Theorie des interkulturellen Philosophierens zu entwickeln mit dem Ziel z.B. einer neuen Konzeption einer Historiographie, nicht nur der Philosophie, sondern der Kulturwissenschaften im ganzen. Die hierzu innovativen und architektonischen Ansätze Zimmermanns verdienen eine sympathisch-kritische Auseinandersetzung und Weiterführung in Theorie und Praxis, in Lehre und Forschung.

Die interkulturelle Vernunft im Sinne eines "genitivus subjectivus" und jenseits aller Ontologisierung wird durch das Adjektiv "interkulturell" weder unverbindlich dekonstruiert noch verliert sie ihren legitimen universalistischen Anspruch, weil sie unterschiedliche Vernunftentwürfe zwar als unterschiedliche, aber nicht radikal unterschiedliche Entwürfe der einen Vernunft begreift. Die Rede von der einen Vernunft ist hier nicht die Vernunft einer bestimmten philosophischen Tradition, ob intrakulturell oder interkulturell. So kann Zimmermanns Theorie der interkulturellen Vernunft als ein Vermittlungsversuch gelesen werden zwischen der Tendenz der Moderne, welche die Kategorie der Einheit über Gebühr strapaziert, und der Tendenz der Postmoderne, die die Vielfalt zu sehr betont. Die interkulturelle Vernunft bedarf zwar der orthaften philosophischen Gestalten, geht aber in keiner orthaften philosophischen Tradition restlos auf. Eine solche orthaft ortlose interkulturelle Vernunft zeigt sich in den immer wieder im werden begriffenen Überlappungsstrukturen. Hierin liegt u.a. das große Verdienst dieser vorliegenden Studie.


München, im Juni 2002Ram A. Mall





VORREDE



Um die Vernunft war es der modernen, aufgeklärten Philosophie europäischer Ausprägung schon immer zu tun. Diese hat sich stets bemüht, sie zu ihrem Prinzip der Prinzipien zu erheben. Im Grunde spiegelte sich hierin noch ein antikes, stoisches Unternehmen wider, durch Spinoza in die gebotene "neuzeitliche" Gestalt übersetzt: das Denken von allem Ballast des Irrtums zu befreien, um es sodann in "reiner" Form auf die Welt zu wenden. In der Tat: Wenn alles Philosophieren am Ende in eine Ethik mündet, die Kriterien liefern soll für ein angemessenes Handeln, und wenn Ethik im Grunde Wissen ist, dann kommt es offensichtlich darauf an, im vorgängigen Erheben des Wissens solche Erkenntnis zu versammeln, die vorurteilsfrei auf die Objektivität des Welthaften gerichtet ist. Wo anders als in logisch verfaßter Rationalität sollten die Instrumente jenes Erhebens begründet sein? Allein, das menschliche Handeln scheint sich, ungeachtet einer derartigen Ausrichtung philosophischen Denkens, unverändert eher auf irrationale Beweggründe zu stützen, nur allzu selten auf rationale Reflexion. Dessen ungeachtet wurde das alte Projekt noch bis in die neueste Zeit hinein verfolgt, oftmals mit dem Hinweis darauf versehen, der Philosophie gehe es allein um die Grundlegung, für die praktische Umsetzung der von ihr erschlossenen Kriterien sei ihre Einsicht zwar notwendige, aber nicht zureichende Bedingung. Ohnehin sei nicht auszuschließen, wie Horkheimer und Adorno gezeigt hätten, daß Aufklärung allemal in Mythos umzuschlagen imstande sei, abhängig nämlich vom jeweils herrschenden ideologischen Konsens. Die Erschließung der Grundlagen aber sei davon nicht weiter berührt.

Mit einbegriffen war zudem von vornherein der allgemein anthropologische Ausgriff: Philosophieren hieß hier immer auch menschliches Philosophieren. Die zunehmende Divergenz von Einzelwissenschaften und Philosophie als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang (in je europäischer Denktradition) einerseits und Anthropologie als Rekonstruktion der primär nicht-europäischen Sozialstrukturen andererseits fand freilich nur sehr eingeschränkte Beachtung. Stillschweigend wurde unterstellt, daß wesentliche Hauptkategorien, in deren Rahmen philosophische Reflexion stattfand und sich prädikativ ausdrückte, Kategorien menschlichen Denkens seien, nicht bloß europäischen Denkens. Namentlich Erkenntnis und Vernunft seien grundsätzlich in einer "reinen" Form lokalisierbar, von welcher die konkret vorfindlichen, kulturell spezifisch sehr verschiedenartigen Denkformen nichts weiter als Modifikationen darstellten. Mit diesem Ansatz unvereinbare, "im Feld" beobachtbare Differenzen wurden in der Regel als Anzeichen von geistiger Rückständigkeit bzw. Unreife gewertet, nicht zuletzt oftmals als eine naheliegende Legitimation für kolonialistische (bzw. imperialistische) Übergriffe genutzt. Letztlich blieben den eher progressiv eingestellten Forschern dann nur zwei Möglichkeiten der Auffassung übrig: Entweder lehnte man eine Einheit inmitten jener Vielfalt überhaupt ab und hatte die Kosten eines schwer begrenzbaren Relativismus zu tragen oder man behielt den Gedanken von der Einheit inmitten der Vielfalt bei und zielte auf die langfristige Bestimmung geeigneter Universalien, die sich freilich nur mühsam erfassen ließen. Noch in der Nachfolge zur Wende der Philosophie auf eine empirische Grundhaltung hin, vor allem dem französischen Existentialismus und Strukturalismus, aber auch den marxistischen Ansätzen geschuldet, veränderte sich diese Situation nur unwesentlich.

Das Szenarium des neuerlichen kulturellen Konflikts, wie es im Nachgang zu den Ereignissen des 11. September 2001 in die Aufmerksamkeit vieler Menschen gedrungen ist, verweist in diesem Zusammenhang auf die spektakuläre Offenlegung eines Umstandes, der im Zuge der oben erwähnten Debatte niemals in aller Deutlichkeit angesprochen worden ist. Nicht deshalb, weil die "Welt" sich seit dem Anschlag auf New York wirklich verändert hätte - der Terror, welcher eine Gestalt des act gratuit annimmt und sich wahllos auf Unbeteiligte richtet, war von jeher nur das Produkt von Verhaltenspathologien weniger Irregeleiteter, von jenen angestiftet, die wegen ihres Machtstrebens und ihrer Vermögensverhältnisse kein besonders stark ausgeprägtes Interesse daran haben, auf absehbare Zeit selbst die Speisetafel des Herrn zu bevölkern - vielmehr eher deshalb, weil Terroristen immer auch die Spitze eines Eisberges von Sympathisanten sind, aus denen sie sich in der Regel zugleich rekrutieren lassen. Und durch alle vorgeblichen Nur, wenn man von einer solchen Basis ausgeht, kann damit gerechnet werden, (axiomatische) Grundsätze zu formulieren, die anzuzeigen imstande sind, welche Eigenschaften menschlicher Systeme universell sind und wo Universalität enden muß. Weil Interkulturalität ja nicht auf ein bloß komparatistisches Unternehmen zielt, sondern vor allem zu sagen hat, was als unveräußerbar zwischen den Kulturen als das genuin Menschliche in Erscheinung tritt, ist diese Basis von Grundsätzen unabdingbar. Und sie erschöpft sich keineswegs in einer rein theoretischen Konstruktion: Denn sie repräsentiert zugleich den Orientierungsrahmen für jede interkulturelle Kommunikation. Und um diese ist es uns primär zu tun, den Blick dabei fest auf die ethischen Implikationen gerichtet.

Als vor rund 220 Jahren Kant seine "Kritik der reinen Vernunft" veröffentlichte, lag ihm die Einsicht in die Notwendigkeit einer empirischen "Vor-Fundierung" des Philosophierens selbst noch durchaus fern. Schon am Anfang seines Werkes versteht er unter "Kritik" ja eine des "Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen [es], unabhängig von aller Erfahrung, streben mag..."1 Und das ist eben das Problem. Denn er läßt sich hierbei keinen Weg offen. So heißt es in der zweiten Ausgabe ganz deutlich: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?"2 Das kann wohl heute noch so stehengelassen werden. In diesem Sinne kann nichts in unserer Reflexion sein, was nicht zuvor wahrgenommen oder qua Übermittlung in der Wahrnehmung erlernt worden wäre. Konsequent schließt Kant zunächst: "Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an." Freilich ist die Hervorhebung der Zeitlichkeit hierbei bereits problematisch. Denn sie impliziert, daß es anderen Hilfskonstruktionen der Begründung hindurch, seien sie darauf gestützt, hausgemachte Probleme im Nachhinein unzulässig zu internationalisieren oder das Anliegen militanter Palästinensergruppen zu instrumentalisieren, indem es zum eigenen erklärt wird, durch alle diese Ausflüchte hindurch zeigt sich in aller Klarheit, im Analysieren jenes Eisberges, namentlich seiner zwar nicht unsichtbaren, aber wenig augenfälligen Partien, daß es Grenzen des Relativismus geben muß, die sich zu allererst an den Menschenrechten festmachen lassen. Mithin geht es hier um eine erste Universalität: um jene der Menschenrechte. Individuen, soziale Gruppen, politische Organisationen und Institutionen, Staatssysteme - sie alle müssen sich an dieser universalen Latte messen lassen, bevor sie selbst eigene Gewalt zu legitimieren imstande sein können. (So daß die Wahl aus den beiden oben angegebenen Möglichkeiten am Ende entschieden ist.)

Die Feststellung dieses hauptsächlich ethischen Sachverhaltes und die Entwicklung der relevanten Schlußfolgerungen daraus für eine anthropologische Fundierung eines geeigneten Begriffes von Interkulturalität verweisen jedoch von Beginn an auf verwickelte systematische wie methodische Probleme, so daß beide einer längeren grundsätzlichen Vorbereitung bedürfen. Diese soll im Vorliegenden geleistet werden. Aber ihre Argumentationsrichtung ist bereits jetzt erkennbar: Der ethische Rahmen für angemessenes menschliches Verhalten ergibt sich aus den Resultaten, die das erworbene Wissen über die Welt, welche selbst wesentlich Natur ist, bereitstellt. Mithin erscheint der Mensch in dieser Betrachtung als ein Naturprodukt, das imstande ist, mit seiner Produzentin in ständiger Wechselwirkung stehend selbst Mitproduzent zu sein. Streng genommen stellt sich der Mensch in dieser Sichtweise als ein Mittel zur (Selbst-)Entfaltung der Natur dar. Dieses Charakteristikum der menschlichen Seinsweise, für sich genommen, von ontologischem Ausgriff, ist zugleich der Bestimmungsgrund für den anthropologischen Definitionsrahmen des Menschen. Allein im Zuge eines solchen Verfahrens ist man in der Lage, Ontologie und Ethik (beide durch Epistemologie miteinander vermittelt) auf der einen Seite mit Anthropologie auf der anderen zu verknüpfen. In diesem Sinne erscheint Anthropologie recht eigentlich als eine Systematisierung von Systemeigenschaften (des sozialen, d.i. menschlichen Systems). Kriterien gemäß solche Erkenntnis durchaus geben könnte. Und in der Tat fährt Kant mit einer überraschenden Differenzierung fort: "Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat."3

Aber hierin liegt das Problem einer "reinen" Erkenntnis jenseits der empirischen (und einer reinen Vernunft jenseits der praktischen): Welcher geheimnisvollen Quelle sollte eine reine Erkenntnis entstammen? Und um diese muß es Kant zu tun sein. Das macht er im folgenden zweifelsfrei klar: "Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen a priori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden... Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z.B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann."4

Dieser Beginn des berühmten Standardwerkes ist jedoch bereits in sich unklar. Denn was bei Kant allemal fehlt, ist eine stringente Erfassung der Ursprungsfrage von Erkenntnis, insofern es ja nicht die einzelne Person ist, welche sie sich zuallererst erarbeiten würde! Tatsächlich wird Erkenntnis zunächst unreflektiert und unsystematisch erworben. Nämlich in einer Kindheit von Personen, die nichts weiter ist als die Resultierende der sozialisierenden Einflüsse, welche auf ein einzelnes Kind wirken und in der Hauptsache einem sozialen Feld entstammen, das durch die prägenden Personen in der Umgebung des Kindes konstituiert wird. Die in jenem Feld zur Verfügung stehende Erkenntnis stellt ein zunächst unreflektiertes Wissensinventar bereit, aus dem sich das Kind eher intuitiv und qua Habituation bedient. Mit Sartre kann man dieses Inventar in Hegelscher Diktion "Objektiver Geist" nennen. Bei Kant dagegen erscheinen alle Einzelpersonen wie "objektiv fertiggebildete" erwachsene Individuen, die gar nicht anders können, als regelrecht zu reflektieren und zu philosophieren. Zu Recht hat deshalb erstmals Sartre an Kant kritisiert, daß sein Menschenbild vom konkreten Menschen, wie wir ihn "auf der Straße" tatsächlich antreffen, unzulässig abstrahiert. Kants Mensch ist ein artifizielles Denkwesen, das sich allein aus dem von Kant selbst bereitgestellten Inventar bedient. Gerade in diesem Umstand offenbart sich der Idealismus des Kantischen Ansatzes besonders deutlich und augenfällig. Im Falle der von Kant entwickelten Ethik (wie sie sich im kategorischen Imperativ ausdrückt, den Kant in die "Kritik der praktischen Vernunft" aufgenommen hat5) manifestiert sich diese Abstraktion vor allem darin, wie Sartre bei vielfältiger Gelegenheit hat einleuchtend zeigen können, daß jede konsistente Wahl der Person, welche sich mit dem Imperativ als kompatibel erweist, gleichwohl eine falsche Wahl sein kann, weil sie keinen Bezug nimmt auf die konkrete, praktische Situation, in welche die einzelne Person sich als eingebundene (engagierte) vorfindet.

Damit aber steht und fällt der ganze Ansatz zu einer reinen Vernunft, welche reine Erkenntnis voraussetzt. Denn die Sozialisierung ist selbst der Grund der Situation. Anders gesagt: Eine Person befindet sich überhaupt nur in einem je situativen Kontext, von dem aus sie auf die Welt zugreift, weil sie auf eine bestimmte (tatsächlich: individuelle) Weise sozialisiert worden ist. Die Sozialisierung jedoch besteht gerade im Erwerb kontextueller Bedeutungsverweisungen, wie sie in ihrem Verlauf erlernt worden sind. Mithin ist das, was die schließlich "erwachsene" Person als Erkenntnis bezeichnet, nichts weiter als das zuvor Erlernte. Und dieses setzt sich zum größten Teil aus jenen Details zusammen, welche viele andere Leute noch früher als ihre eigene Erkenntnis angesammelt haben. Das heißt, von einer Erkenntnis a priori im oben beschriebenen Sinn, ob rein oder unrein, kann gar nicht die Rede sein.

Um diese Argumentation schlüssig auf unsere Thematik wenden zu können, müssen wir freilich zunächst eine Vorverständigung darüber herstellen, daß Philosophie eben nicht, wie Kant sicherlich noch dachte, als grundlegende Disziplin den Einzelwissenschaften vorgängig ist (denen sie den Grund erst legt). Sie erscheint vielmehr erst im Nachhinein, der Insichtnahme dessen folgend, was die Einzelwissenschaften zunächst bereitgestellt haben. Sie selbst hat also gar keinen a-priori-Charakter, sondern immer nur a-posteriori-Charakter! In diesem Sinne besteht die philosophische Aufgabe vor allem im Zusammenfügen dessen, was die Wissenschaft nur fragmentarisch darzubieten vermag, ist sie doch auf ihren jeweiligen Objektbereich eingeschränkt. Dieser neu gewonnene Gesamtzusammenhang muß allerdings auch (freilich erst am Ende der Untersuchung) begründet werden. Darauf werden wir noch ausführlicher einzugehen haben. Was aber die reine Erkenntnis (und mithin die reine Vernunft) im Sinne Kants angeht, so sehen wir leicht ein, daß mit ihr nicht zu rechnen ist, wenn alle möglichen Sozialisationen offensichtlich verschieden sind. Es kann also keine Erkenntnis geben, seien erworbene "Übung" und "Geschick in ihrer Absonderung" noch so groß, die sich nicht zugleich auf (empirische) Erfahrung und somit (sinnliche) Wahrnehmung stützen würde. Auch, wenn Wahrnehmung und Erfahrung nicht notwendig unsere eigenen sein müssen. Deshalb ist auch der Satz von der Ursache keineswegs a priori, wie Kant meint, denn wir haben ihn zuerst unreflektiert erfahren und später ist er uns erläutert worden und wir haben seine Bedeutung erlernt. Tatsächlich kommt es noch viel schlimmer: Wir können nämlich niemals sicher sein, ob wir überhaupt das Richtige erlernt haben (es sei denn, wir probieren es aus und fügen das Ergebnis unserer eigenen Erfahrung hinzu). Aber selbst, wenn wir es prüfen können, ist damit noch längst nicht sichergestellt, daß wir uns im Besitz einer Wahrheit wähnen dürfen. Denn unsere empirische Erfahrung hängt letztlich von unserer eigenen Interpretation dessen ab, was wir wahrnehmen. Und der Mensch nimmt nicht einfach nur wahr. Er wählt aus allem Wahrnehmbaren aus (sonst würde er permanent überlastet) und interpretiert nach Maßgabe einer bereits erworbenen Disposition. Das heißt, Wahrnehmung, Interpretation der Wahrnehmung und die "Montage" all dessen zu unserer Erfahrung hängen alle gleichermaßen wiederum von unserem Kontext ab, also von der Situation, in die wir "hineinsozialisiert" worden sind. Im Grunde bestimmt also unsere erworbene (erlernte) Erwartungshaltung, was wir überhaupt wahrnehmen und wie wir das, was wir wahrnehmen, interpretieren. Unsere erworbene Erkenntnis ist also immer auch je unsere eigene Erkenntnis - noch bar jeglicher Verbindlichkeit für andere. Erst unsere Kommunikation mit den anderen wird erweisen, inwieweit unsere Erkenntnis Verbindlichkeit zu erwerben imstande ist.

Kurz: Was wir vorerst Kultur nennen, ist nichts weiter als ein Klassifikationsmerkmal von sozialen Kontexten. Wir gehen davon aus, daß es verschiedene Ebenen der sozialen Vermittlung gibt (die man sich veranschaulichen kann wie Teilmengen einer großen Menge, die letztlich aus der Menge aller Menschen auf diesem Planeten besteht). Es ist einfach aus pragmatischen (allerdings auch historischen) Gründen sinnvoll, nicht jede soziale Gruppe, der Personen unweigerlich angehören müssen, als Kultur zu bezeichnen. Man wird zunächst von verschiedenen Gruppen und Klassen sprechen, schließlich von Gesellschaften. In diesem Sinne herrscht eine soziologische bzw. sozialpsychologische Konnotation vor. Faßt man Gesellschaften unter Merkmale der Staatsorganisation, so herrscht eher eine politische oder auch juristische Konnotation vor. Sicherlich aber kann es auch angezeigt sein, Gesellschaften in statistische Strata aufzuteilen, um etwa demographische Charakteristika herauszuarbeiten, oder in landschaftliche Verhaltensbesonderheiten (und Sprachräume natürlich) oder gemeinsame Rituale und dergleichen, um einen Überblick über Mentalitätsunterschiede (zum Beispiel im Sinne der französischen Historikergruppe um Marc Bloch) zu gewinnen. Es wird gleichwohl geraten scheinen, die Bezeichnung Kultur sowohl auf eine sozialorganisatorische wie auch eine artefaktuelle Konnotation zu beziehen, um dabei den anthropologischen Kern der Problematik hervorscheinen zu lassen. (Dabei werden die angelsächsischen Unterschiede zwischen social und cultural anthropology letztlich aufgehoben.) Ferner wird es sich im Vorliegenden als praktisch erweisen, den explizit ethnologischen Bezug, der bei der Betrachtung immer mitschwingt, im verallgemeinerten Sinne Bourdieus zu nutzen: Das heißt, auch die Phänomene des eigenen Kulturkreises werden als ethno-soziologische aufgefaßt, so daß wir uns auch jener Kultur, in die wir selbst hineingewachsen sind, mit der angemessenen Distanz des Ethnologen nähern. Für eine philosophische Untersuchung wie der im Vorliegenden angestrebten ist aber die Beachtung gerade dieses letzten Umstandes vergleichsweise einfach umzusetzen, denn der Philosoph ist von vornherein unter den Menschen immer auch ein wenig Ethnologe. Die kritische Grundstellung des Philosophierens sorgt allemal für gemessene Distanz.

Wenn wir somit den Gedanken aufgeben müssen, zu einem "reinen" Denken inmitten des unreinen vorstoßen zu können, dann müssen wir gleichfalls einräumen, daß die Urteilskraft im Kantischen Sinne ihre vermittelnde Rolle als Brücke zwischen der reinen und der praktischen Vernunft zwangsläufig verliert. Vielmehr erscheint sie zunächst als "Einstieg in die Reflexion", das heißt sie dient wesentlich der ordnenden Organisation der erworbenen Erkenntnis. Sie ist im Grunde Ordnungsprinzip der Erfahrung. Aber wir sehen natürlich sofort, daß sie dann wohl schwerlich in der Lage sein wird, sich von einem absoluten Bezugspunkt aus ihrer selbst zu versichern. Anders gesagt: Grundbegriffe und Begriffe, die wir unserer Erkenntnis gemäß bestimmen und aus denen wir Grundsätze und Sätze bilden, die wir regelrecht in einen architektonischen Zusammenhang zu bringen bemüht sind (das nennen wir nämlich formal eine Theorie bilden oder einfach ein Weltbild errichten), können keineswegs als abschließendes Wissen behandelt werden. Indem wir sie nutzen, beginnen wir überhaupt erst die eigentliche Reflexion!

Ernst Bloch hat diesen Sachverhalt erstmals im Rahmen einer Prädikationstheorie formuliert: Statt der üblichen Prädikationsfolge Begriff - Urteil - Schluß verwendet Bloch daher die erweiterte Abfolge Ergriff - Urteil - Begriff - Schluß. 6 Dabei ist der "Ergriff" als ein Vorbegriff zu verstehen, der vorläufig (gleichsam "ins Unreine") dem Einstieg in die Reflexion und in deren Abbildung durch die Prädikation dient. Dadurch wird auch die klassische Satzform der Art S = P (Subjekt ist Prädikat) modifiziert, weil sie sich nicht mehr als statische, sondern nun als dynamische zu verstehen hat: S → P (Subjekt wird Prädikat). Theorien sind traditionell nichts anderes als Satzmengen, bei denen die Verknüpfung der Sätze durch zuvor definierte Regeln festgelegt ist. Sätze werden dabei von Grundsätzen abgeleitet. Alle Ableitungszusammenhänge einer Theorie müssen zumindest konsistent sein. Offensichtlich werden aber alte Theorien (welche das auch immer sein mögen) durch neue Theorien permanent ersetzt. Mithin unterscheiden sich neue von alten Theorien in der Zahl der Sätze, die in ihnen enthalten sind, und in den Regeln, welche die Verknüpfung der Sätze festlegen. In wissenschaftlichen Theorien gilt zudem die Voraussetzung, daß alte Theorien, haben diese erst einmal Gültigkeit gewonnen, als Spezialfall in der neuen Theorie enthalten sein müssen. Diese für die Naturwissenschaften sehr streng gefaßte Voraussetzung kann ohne Beschränkung der Allgemeinheit auf andere Wissenschaften ebenso übertragen werden wie auf die Philosophie selbst. Man kann hier von Denklinienkonsistenz sprechen. Somit werden neue Theorien in der Regel mehr Sätze umfassen als alte. Zudem werden neue Regeln auftreten, die zu neuen Verknüpfungsgestalten neuer (aber auch alter) Sätze führen. Weil alle diese Sätze um Begriffe (Grundsätze um Grundbegriffe) formuliert werden, wird es also auch neue Grundbegriffe bzw. Begriffe geben. Daraus folgt sofort zweierlei: Zum einen sind Begriffe alter Theorien Ergriffe neuer Theorien. Zum anderen kann es keine Letztbegründung geben, weil die Zahl der zugrundegelegten Grundbegriffe immer offen ist. Auf unsere Thematik übertragen, heißt das vor allem, daß kein Grund zu der Annahme besteht, kulturell spezifische Perspektivität müsse immer mit denselben Grundbegriffen (und Begriffen) und entsprechend mit denselben Grundsätzen (und Sätzen) beginnen. Daher kann es immer nur kulturell spezifische Erkenntnis geben, die von der Sozialisierungserfahrung abhängt. Und im Umkehrschluß kann keine einzelne Kultur imstande sein, eine letztbegründende Menge von Grundsätzen zu erfassen. Weder kann man also auf die eigenen Theorien einen sinnvollen Alleinvertretungsanspruch stützen, noch kann man wissen, wieweit die eigenen Theorien im Vergleich mit anderen wirklich "gediehen" sind. Man kann bestenfalls auf "lokale Funktionalität" abstellen. Und was für die Urteilskraft gilt, behält seine Gültigkeit natürlich auch für die praktische Vernunft. Auf diese Weise ist die Ethik letztlich mit der Theorie des Wissens auf das Engste verklammert.

Wir haben hier vorerst außer Acht gelassen, daß wir wesentlich mit der Prädikationsform in Satzgestalt argumentiert haben, wie es für Ausführungen in einer modernen, indo-europäischen Sprache angemessen erscheint. (Auch mathematische Aussagen als am strengsten formalisierte Form der Prädikation lassen sich unter diese Satzgestalt fassen.) Später werden wir jedoch zu prüfen haben, ob dieses Kriterium auch beibehalten werden kann, wenn wir unsere Argumentation in eine andere Sprachfamilie überführen wollen, der die indoeuropäische Satzstruktur wesentlich fremd ist, wie etwa im Falle der sino-tibetischen. Aber darauf kommen wir noch. Wir sehen aber zumindest soviel: Die Kantische Architektonik, die mit dem Begriff einer "reinen Erkenntnis" anhebt, erweist sich aus heutiger Sicht (bei allem gebotenen Respekt vor der Leistung des Autors zu seiner Zeit) als ungerechtfertigter, mithin willkürlicher Ansatz.

Und das sehen wir auch sofort an einem anderen, auf die eingangs diskutierte Passage der "Kritik der reinen Vernunft" alsbald folgenden Beispiel: "Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsurteil. Denn, ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bedingungen zu meinem Urteile schon in dem Begriffe, aus welchem ich das Prädikat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen, und dadurch zugleich der Notwendigkeit des Urteils bewußt werden kann, welche mir Erfahrung nicht einmal lehren würde. Dagegen, ob ich schon in dem Begriff eines Körpers überhaupt das Prädikat der Schwere gar nicht einschließe, so bezeichnet jener doch einen Gegenstand der Erfahrung durch einen Teil derselben, zu welchem ich also noch andere Teile eben derselben Erfahrung, als zu dem ersteren [gehörig] hinzufügen kann."7 Nochmals wollen wir an diesem Beispiel kurz die wesentlichen Aspekte unserer Argumentation illustrieren: Entgegen dem Behaupteten habe ich nämlich das Vorhandensein von körperlichen Objekten immer schon in meiner Erfahrung. Es hängt von meiner reflexiven Entwicklung ab, von wann an ich sie auf den Begriff (Körper) zu bringen imstande bin. Daß Körper räumlich ausgedehnt sind, kann ich gleichfalls erst verstehen, wenn ich meine Erfahrung (von Zwischenräumen zwischen Objekten) auf den Raumbegriff bringe. Im übrigen ist das nicht so einfach, wie es vermutet werden könnte: Wie man im Bezug auf Spinoza und Leibniz zeigen kann, und wie es gerade heute im Rahmen der modernen Physik besonders aktuell geworden ist, können Objekte ebenso gut als Form des Raumes, wie auch der Raum als Form der Beziehungen zwischen Objekten aufgefaßt werden. Beide Auffassungen erscheinen als äquivalent. Es ist offenbar die alltägliche Anschauung des Wahrgenommenen, die das letztere favorisiert. Das ändert aber nichts an der reflexiven Äquivalenz. Mithin ist der Satz, Körper seien ausgedehnt, nicht nur nicht a priori, sondern auch keineswegs eindeutig! Stets ist es zuerst die Erfahrung, die als Grundlage der Reflexion dient, welche sie dann auf den Begriff bringt, mit dem sich Sätze formulieren lassen. Während ich als einzelne Person erst im Anschluß an diesen Prozeß fähig bin, in den entsprechenden Diskurs einzutreten, wird eben dieser Prozeß doch recht eigentlich zuallererst durch den Diskurs, also durch die Kommunikation mit anderen, ausgelöst. Insofern ist er von vornherein vermittelt und bezogen auf die Erkenntnisgewinnung (durch mich) immer schon a posteriori. (Denn jeder Mensch ist ein Nachgekommener.) Ganz parallel läuft die Argumentation im Falle der Schwere von Körpern. Es ist kein Grund erkennbar, der annehmen läßt, irgendetwas gelange in dieser Hinsicht a priori in die Erkenntnis.

Gleichwohl fallen uns bei dieser Betrachtung erste "Indizien" auf, welche auf mögliche Universalien hinzudeuten scheinen: Beispielsweise unterstellen wir auf jeden Fall, daß der Mensch sozial vermittelt sei. Anders gesagt: Es gibt eine invariante Beziehung des Menschlichen zu sich selbst, die wesentlich durch das Verhältnis der individuellen Singularität (der Person) zu dem sozialen Feld (der "Oberlagerung" der Wirkungen, die alle anderen im sozialen Kollektiv8 entfalten, in deren Mitte die Person Individuum ist) geprägt wird. Diese Überlegung schließt auch eine Sozialisationsprozedur (in welcher Form auch immer) von Anfang an mit ein. Zudem gehen wir naheliegenderweise davon aus, daß die Wahrnehmung von Menschen auf der biologischen Ebene, was also das explizite Verhältnis von peripheren Sinneswahrnehmungen und Informationstransport im Rahmen des zentralen Nervensystems auf der einen Seite und Informationsverarbeitung im Gehirn auf der anderen Seite angeht, keine wesentlichen Unterschiede aufweist. Mithin können Unterschiede erst auf der Ebene der sozialen Vermittlung überhaupt zutagetreten. Daß sie aber zutagetreten, ist selbst ein pluraler Umstand, das heißt, die vorfindliche Pluralität der Differenzen ist im natürlichen Entwicklungsprozeß bereits selbst angelegt. Differenzen sind daher mit allen anderen gleichberechtigt. Inwiefern sie jedoch auf ungleich gewichtete Weise auftreten, wird später noch zu erörtern sein.

Auf einer systematischen Ebene sind solche "Indizien" freilich nicht oft thematisiert worden, was häufig dazu geführt hat, verschiedene kulturelle Systeme (im Sinne der traditionellen "modernen" Anthropologie seit Lévi-Strauss) als irreduzible Phänomene hinzunehmen und unverbunden nebeneinander stehenzulassen - damit (wie nicht ganz ohne Ironie bemerkt werden muß) zugleich der vorgeblichen Förderung von kultureller Pluralität dienend, leider aber auch einem undifferenzierten Relativismus. So gibt es, um hier nur ein Beispiel zu nennen, eine grundsätzlich "agnostische" Auffassung, wie sie etwa von Elkana vertreten worden ist, welche eine "metische" (listige) Vernunft unterstellt, die der epistemischen entgegengerichtet ist. 9 Der Grundgedanke orientiert sich dabei an der Sichtweise von Clifford Geertz, welcher den Kulturbegriff wesentlich als einen semiotischen faßt, so daß der Mensch als ein in selbstgesponnene Bedeutungssysteme verstricktes Wesen erscheint. 10 In der Hauptsache kann dem nicht ohne weiteres widersprochen werden. Tatsächlich ähnelt das wissenschaftliche Unternehmen durchaus einer rituellen Inszenierung, die einen nüchternen Realismus ("Die Welt ist wie sie ist.") als Produktion des epischen Theaters ausweist. Fraglich bleibt dabei dann freilich, inwieweit die metis nicht ohnehin bereits in der episteme selbst aufgehoben ist. Dieser Gedanke liegt vor allem nahe, seit wir mit den Arbeiten von Thomas Kuhn und Richard Feynman vertraut geworden sind11: Wir haben ja auch weiter oben schon gesehen, daß selbst die Wahrnehmung bereits recht eigentlich als Interpretation aufgefaßt werden muß. Insofern sie dann aber primär als Deutung erscheint, unterscheidet sie sich kaum noch von einem ästhetischen Produktionsvorgang wie etwa der Dichtung. Andererseits kann man sich nicht allein auf diese Sichtweise zurückziehen, die im Sinne einer konsequenten Anwendung hermeneutischer Grundprinzipien langfristig in die gleiche agnostische Haltung einmünden würde, wie jene, welche die Überlegungen Elkanas nahezulegen versuchen. Zwar findet hier die Hermeneutik als eine verallgemeinerte Logik Eingang in unsere Überlegungen. 12 Insoweit haben wir - auch im strengen, begrifflichen Rahmen der philosophischen Erörterung - immer schon mit Deutungsaspekten zu tun. Doch in einer literarischen "Geschichte der Empfindlichkeit" ist unser Anliegen letztlich nicht auflösbar. Um in eine Ethnopoesie (Hubert) Fichtescher Prägung einzumünden, müßte unser Vorgehen jenem des spätenHölderlin gleichen, der die Philosophie zugunsten der Poesie verläßt. Wir halten es dagegen eher mit dem jungen Schelling, welcher die Erwägungen der Ästhetik im allgemeinen und der Poetik im besonderen bestenfalls als (wenn auch ultimatives) Organon der Philosophie gelten läßt, dabei aber stets der Linie philosophischer Reflexion folgt, die jene Erwägungen auf den Begriff zu bringen unternimmt. Und eine Poetik ist eben längst keine Poesie, wie bereits Hans Mayer betont hat.

Neben den philosophischen "Ergriffen" für das hier angestrebte Unterfangen, von eher grundsätzlichem Charakter, gibt es auch einige bedenkenswerte ethno-soziologische Ergriffe, die als Ausgangspunkt für die weitere Betrachtung zu dienen imstande sind: Der erste Punkt hängt mit der impliziten Übertragung fachspezifischer Begriffe auf kulturelle Bereiche zusammen, die einer ethno-soziologischen Erforschung unterliegen, der Erfassung durch diese Begriffe jedoch eher ungerechtfertigt ausgesetzt werden. Erich Wulff hat als einer der ersten auf diesen Umstand hingewiesen. Vor allem in der Verarbeitung seiner praktischen Erfahrungen als Psychiater in Vietnam, über die er unter Pseudonym ausführlich berichtet hat13, ist er auf die Frage aufmerksam geworden, inwieweit standardisierte Begriffe der europäisch orientierten einzelwissenschaftlichen Forschung, etwa der Psychoanalyse, überhaupt auf angemessene Weise auf Situationen übertragbar sind, deren Kontext von vornherein auf eine ganz verschiedene Begrifflichkeit ausgerichtet ist. Es kommt nicht von ungefähr, daß dieses Thema zunächst in der Psychoanalyse behandelt worden ist, also auf der "individuellen Seite" der sozialen Vermittlung, insofern gerade der Begriff des Individuums selbst in Europa einer anderen Konnotation unterliegt als zum Beispiel in Ostasien. Gleichwohl hat es eine, auch praktisch angewandte, Bemühung in Europa gegeben, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv neu zu interpretieren, nämlich im Rahmen der italienischen "Antipsychiatrie" (von Basaglia und Pirella). Der interessante Aspekt hierbei ist, daß die Antipsychiatrie, welche ausgezogen ist, die traditionellen psychoanalytischen Kategorien zu erneuern - eine Unternehmung, wie sie auf der Interpretationslinie von Wulff liegt - gerade aus einer europäischen Sozialphilosophie abgeleitet wurde, nämlich aus dem Ansatz Jean-Paul Sartres. Pirella selbst hat einmal in diesem Zusammenhang, übrigens im unmittelbaren Bezug auf Ernst Bloch, von einer "konkreten Utopie" gesprochen. 14

Überhaupt besteht die Verbindung zwischen der "Seite des Individuums" und der "Seite des Kollektivs" gerade in dem, was Erich Wulff zutreffend als "Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz" bezeichnet hat und was wesentlich als ein "Eindringen des Unheimlichen in ein verläßliches Regelsystem" aufgefaßt werden kann. 15 In diesem verwickelten Ausdruck sozialer Vermittlung, dessen Diskussion Wulff in die Nähe des Ethnologen Michel Leiris rückt, verbirgt sich ein komplexer Vermittlungszusammenhang, der auf der sozialphilosophischen bzw. soziologischen oder sozialpsychologischen Ebene als einer gelesen werden kann, welcher das Individuum auf das Kollektiv bezieht, von dem das Individuum konstitutiver Teil ist, der andererseits auf der ethnologischen Ebene das Begründungsmuster kolonialistischer Unterdrückung zu erhellen vermag - gerade dadurch aber auch demonstriert, auf welche Weise alle diese Aspekte mit dem "gewöhnlichen Alltag" des eigenen gesellschaftlichen Kollektivs zusammenhängen: Es ist gerade jenes Unheimliche, ein Symmetriebruch in ansonsten symmetrisch konzipierten Regelsystemen, das die dialektisch strukturierte Konfliktstellung der einzelnen Person inmitten der Gesellschaft auf eine analoge Weise enthüllt, wie die intuitive Konfrontation des Gewohnten mit dem Fremden. Und man sieht deutlich, daß dieses Problem keineswegs ein Spezialproblem der Ethnologie darstellt, wie ursprünglich gedacht, sondern darüber hinaus wertvolle Aufschlüsse zu liefern in der Lage ist über den "ganz gewöhnlichen" Vermittlungszusammenhang von Person und Gruppe. Leiris hat es als das "Heilige im Alltagsleben" bezeichnet, charakterisiert durch ein "Milieu außerhalb des Normalen, mit außerordentlichen Tabus belegt, ein tief vom Übernatürlichen durchdrungener Bereich... "16 Freilich muß hierbei der hohe Metapherngehalt der benutzten Begrifflichkeit in Rechnung gestellt werden: Mit jenem Unheimlichen werden vor allem das spontan auftretende Inkompatible, der Riß im laufenden Diskurs, oder auch der Riß in der Realität konnotiert, so daß der Begriff vom Heiligen hier eher als säkularisiertes Äquivalent der Erfahrung von Fremdem in Erscheinung tritt. Der religiöse Bezug ist dabei durchaus sekundär. Beispielsweise kann sich eine Empfindung des Unheimlichen bereits dann einstellen, wenn im gewöhnlichen Alltagsdiskurs, etwa bei der Erhebung der Krankengeschichte eines Patienten in der Klinik, Brüche der Interpretation erkennbar werden, die mit einem Schlag eine völlig fremde, jedoch gleichfalls legitime, Herangehensweise aufdecken. Wulff hat Vorgänge dieser Art aus seiner klinischen Arbeit in Vietnam berichtet, wenn im Zuge der banalen, technischen Informationserhebung (einer Befragung des Patienten) offensichtlich wird, wie das chronologische Zeitgerüst der Narration durch die Wirkungen einer szenisch-mythologischen Ebene ersetzt wird oder das Verhältnis von Konkretion zu Abstraktion völlig neue Gestalt annimmt, so daß auch jene banalen Mitteilungen ausgelegt und gedeutet (genauer noch: diviniert) werden müssen, um sie überhaupt auch nur andeutungsweise verstehen zu können. 17 Aber es versteht sich von selbst, daß jede Auslegung zugleich die Gefahr der Vereinnahmung in sich birgt. Letztendlich besteht in diesem Sachverhalt der Grund, welcher bei Hubert Fichte zum Hölderlinschen Rückzug in die (poetische) Prosa führt. In der expliziten Wendung gegen alle ungerechtfertigte Vereinnahmung liegt dieser eine eher selbstanalystische Poetik zu Grunde. 18 Zwar hat Hubert Fichte durch dieses Vorgehen, wie Heinrichs zu Recht bemerkt, in einer "Sprache der Widersprüche... die Dichtung soziologisch und ethnographisch bereichert"19, er kann aber nicht immer (und das ist gerade der Nachteil einer Poetik, die sich wesentlich philosophischer Begrifflichkeit entzieht) verhindern, über das Ziel hinauszuschießen. Beispielweise diskutiert er einen Satz von Lévi-Strauss wie: "Verstehen besteht darin, einen Typus von Realität auf einen anderen zurückzuführen." als Rechtfertigungsgrund für den französischen Kolonialismus. 20 Das scheint freilich eher seiner (insgesamt durchaus unklaren) Polemik gegen Lévi-Strauss geschuldet, weniger dem Umstand, daß die Transformationstheorie der strukturalistischen Ethnologie nicht imstande wäre, ihre Erkenntnisse auch positiv auf eine akzeptierte Differenz zu richten, welche als Differenz stehengelassen wird und nicht vereinnahmt. Insofern steht die Auffassung von Lévi-Strauss, bei allem internen, auf modische persönliche Aspekte rekurrierenden, Streit, der Ethik Sartres ja ziemlich nahe.

Überhaupt ist es gerade Lévi-Strauss, der zentrale Topoi der Anthroplogie in einer modernen, progressiven Interpretation begründet und auf diese Weise erheblich zu einer Bereicherung ethnologischer "Ergriffe" beigetragen hat. Dabei sieht er, in der Nachfolge zu Mauss und in einer modernen Tradition seit Malinowki, das Grundproblem als eines der Irreduzibilität von Kulturen. So geht es ihm zunächst um eine Positionierung des "theoretischen Überbaus" von Kulturen, mit Blick auf narrative Aspekte des Mythos, auf Handlungsvollzüge im Rahmen angewandter Magie und dergleichen mehr, in einem Spektrum variabler, struktureller Hauptkomponenten, welche als Ausdifferenzierung eines im Grunde ähnlichen, wenn nicht identischen kulturellen Substrats aufgefaßt werden können. Insofern verfährt er entsprechend jenen Einsichten, die aus dem strukturalistischen Ansatz Saussures zu einer Linguistik gewonnen werden konnten. Tatsächlich wird die Klassifizierung von Sprachen in diesem Sinne den "spektralen" Kriterien entsprechend ihrer Einordnung gemäß lexikologischen und grammatikalischen Eigenschaften vorgenommen. 21 Weil Lévi-Strauss die auf kulturelle Systeme übertragenen Eigenschaften in Diagrammen ausdrückt, die formalen Bedingungen unterliegen, kann er seine Klassifikationskriterien in einem methodischen Äquivalent zur algebraischen Geometrie zusammenfassen. Dieser zunächst durchaus überraschende Umstand läßt sich einfach dadurch erklären, daß der strukturalistische Ansatz selbst, der von Beginn an wesentlich interdisziplinär angelegt ist, am Vorbild der mathematischen Strukturtheorie modelliert wird. Jean Piaget hat hierzu erhellende Ausführungen gemacht. 22 Der wichtige Punkt hierbei ist, daß ein Bezug auf topologische und geometrische Aspekte immer auch auf eine Universalität der Konzepte zielt, die auf zweierlei Weise bestimmt werden kann: einmal durch die Tatsache, daß die menschliche Wahrnehmung bereits auf der biologischen Ebene eine topologische und geometrische Konditionierung aufweist, die im Zuge der Kinderentwicklung empirisch nachgewiesen ist. Gerade Piaget hat zu diesem Thema zentrale Ergebnisse beigetragen. Zum anderen aber, gilt von der Mathematik schon im Grundsatz die "Universalitätsvermutung" - nicht so sehr, weil es sich um eine Wiedereinführung der "reinen Erkenntnis" im Kantischen Sinne handeln würde (wie Kant selbst im Bezug auf Platon wahrscheinlich gedacht hätte), sondern vielmehr, weil wir im Bereich der physikalischen Anwendungen der Mathematik nicht erwarten würden, daß kulturspezifisch (mithin auch geographisch) verschiedene Resultate erzielt werden könnten. Nicht, daß Lévi-Strauss (und Piaget) dieses Problem wirklich vollständig behoben hätten, aber sie haben von Beginn an auf die Fragestellung als eine verwiesen, deren Ausgang dominierend über Universalität mitzuentscheiden hat. Hierzu wird im folgenden noch Verschiedenes auszuführen sein. Kommen wir aber noch zu einem anderen Aspekt, der neuerlich unmittelbar auf die erwähnte Irreduzibilität rekurriert:

An erster Stelle zielt das Bemühen um die Aufklärung einer solchen Irreduzibilität nämlich auf das magische Denken, in dem Lévi-Strauss eine "gigantische Variation über das Thema des Kausalprinzips" erkennt. 23 Dabei ist die Institution des "Zauberers" als Ausdruck einer Legitimationslogik zu sehen, welche der Ideologie noch am nächsten steht. Im ersten Band seiner "strukturalen Anthropologie" gibt Lévi-Strauss hierfür ein erhellendes Beispiel24: Er bezieht sich auf einen Bericht, den die Ethnologin Stevenson 1905 über ein Vorkommnis bei den Zuni-Indianern abgegeben hatte, in dessen Verlauf ein junger Mann der Hexerei beschuldigt wurde, die er zunächst leugnete, dann einräumte, vorgebend, das Opfer zu heilen, dann nochmals in einer anderen, ihn stärker belastenden Variante zugab, nachdem er erfolglos versucht hatte, sich dem Gericht durch Flucht zu entziehen, und der schließlich freigelassen wurde, nachdem er den Verlust seiner magischen Kraft beweint und pathetisch beklagt hatte. Offenbar wird der Beschuldigte (der übrigens die Todesstrafe zu befürchten hat) nicht freigesprochen, indem er sich zu entlasten weiß, sondern indem er sein angebliches Verbrechen auf sich nimmt. Er verbessert sogar das Ergebnis, indem er verschiedene Versionen vorbringt, von denen die zweite belastender ist als die erste. Mithin verlangt das Gericht vom Angeklagten in der Hauptsache die Bestätigung eines Systems, das ihnen (und ihm) verborgen ist und von dem sie nur ein Detail zu kennen meinen. Der Angeklagte soll die Ergänzung dieses Systems selbst liefern. Lévi-Strauss formuliert ausdrücklich: "... mehr als ein Verbrechen zu ahnden, suchen die Richter (indem sie die objektive Grundlage durch einen angemessenen emotionalen Ausdruck [der Bestürzung] für gültig erklären) die Wirklichkeit des Systems, die das ermöglicht hat, zu bestätigen."25 Aus diesem Zusammenhang erklärt sich das brennende Interesse der Zuhörer an den Geschichten des Jungen, von denen sie sich so stark fesseln lassen, daß sie scheinbar den Grund ihrer Anwesenheit vergessen haben, wie Stevenson über diesen Vorgang mitteilt. Ihre Bestürzung (anläßlich des Auffindens eines Indizes) drückt die Einsicht in den Umstand aus, daß es wirklich ein System gibt. Anders gesagt: Der Angeklagte erfindet eine Geschichte, welche das erwartete System verifiziert, so daß der Junge die Bedrohung der physischen Sicherheit der Gruppe, deren Anlaß er selbst ist, in eine Kohärenzgarantie des Gruppendenkens transformiert. (Wir erinnern uns der von Hubert Fichte inkriminierten Passage: Verstehen besteht darin, einen Typus von Realität auf einen anderen zurückzuführen. Im vorliegenden Fall geht es offenbar um eine selbstreflexive Variante dieses Verstehens.) Der wichtige Punkt in der ganzen Betrachtung ist der Sachverhalt, daß es nicht um eine Wahl zwischen diesem (magisch konnotierten) System geht und einem anderen, sondern zwischen dem magischen und überhaupt keinem. Es droht also das Chaos mehr als die physische Gefahr. Eine solche Sichtweise basiert mithin auf einer eigenen, spezifischen Logik, die gleichwohl nicht wirklich beliebig ist, sondern ihren eigenen Optimierungsprinzipien folgt - ganz im Sinne des von Lévi-Strauss beschriebenen Verfahrens der bricolage, jener probierenden Bastelei, die nicht weit entfernt vom "trial&error"-Verfahren mancher Bereiche der experimentellen Naturwissenschaften, vor allem aber auch der Medizin europäischer Prägung, operiert. 26 Im Grunde ist die solchen Denkweisen unterliegende Sozio-Logik immer eine des Mythos.

Die Magie erscheint daher im Vergleich zum wissenschaftlichen Verfahren europäischer Prägung als eine alternative Art wissenschaftlichen Denkens, insofern sich ihre Funktion auf der strategischen Ebene vom letzteren unterscheidet, einer unterschiedlichen Gewichtung des Wahrgenommenen gemäß, strukturell aber, nach Intention und epistemischer Herangehensweise, gar keine Differenz besteht. 27 Grundsätzlich kann somit die moderne Naturwissenschaft als eine Form der Magie interpretiert werden, die besser funktioniert als andere, gemessen etwa an der Zahl der empirischen Fälle, welche mit ihr erfaßt werden können. 28 Der Mythos liefert der Magie den "theoretischen Überbau", wesentlich auf narrative Strukturen gestützt. Dieser Überbau wird durch Riten praktisch in die Empirie übersetzt. Beide (Mythos als Theorie wie Ritus als Praxis) dienen letztlich der Klassifikation des kollektiven Systems. Sie sind selbst Klassifikationssysteme, die aber nicht den Angehörigen des Kollektivs propositional zur Verfügung stehen und in diesem Sinne "im Bewußtsein sind", sondern vielmehr als (kollektives) Unbewußtes die Alltagspraxis "durchweben" und prägen, durch die ethnologische Methode aber erst nachträglich rekonstruiert werden können, das heißt also, primär durch einen externen Beobachter. Der Totemismus steht dieser unbewußten Struktur am nächsten, denn er repräsentiert eine Lebensweise der Mischform, in dem Sinne, daß er darauf ausgeht, theoretische wie praktische Aspekte zu vereinheitlichen und zusammenzuführen. Mit Lévi-Strauss können wir daher sagen, daß die Klassifikationssysteme (etwa die Mythen) konzipiert werden und die Riten vollzogen, aber der Totemismus wird gelebt und kann, weil er ein erbliches Klassifikationssystem von Gruppen darstellt, immer noch als Form einer Struktur weiterleben, wenn die Struktur selbst schon längst verschwunden ist. 29

Es zeigt sich, daß das Problem der Universalien bei Lévi-Strauss als eines auftritt, das eher auf die Invarianz unter Transformationen (von Systemen) zielt als auf tatsächlich autonom bestimmbare und als isolierte konkret vorfindbare Universalien. Für Lévi-Strauss bieten sich hier zunächst die Familiensysteme als erstes Beispiel an, die äquivalent sind mit Systemen von Heiratsregeln innerhalb des jeweiligen Kollektivs und durch genealogische Zusammenhangsdiagramme abgebildet werden können. Er stellt zunächst fest, daß unabhängig davon, ob Familiensysteme matrilinear oder patrilinear organisiert sind, Kinder des Vaterbruders und der Mutterschwester immer in dieselbe Hälfte (moiety) wie die Bezugsperson (Ego) gehören, während Kinder der Vaterschwester und des Mutterbruders in die andere gehören. In einem exogamen System sind daher die letzteren die ersten Kollateralen, mit denen eine Heirat möglich ist. 30 Diese weitverbreitete Heiratsregel kann Lévi-Strauss formal (graphisch) im Rahmen der genealogischen Repräsentation so ausdrücken, daß es eine abstrakte "Orientierung" von Familienmitgliedern gibt, dargestellt durch die formale Zuordnung eines Vorzeichens (+ oder - ), bei der Brüder und Schwestern, wie parallele Cousins/Cousinen, gleich orientiert sind und dasselbe Vorzeichen tragen, während Kreuzcousins/cousinen das entgegengesetzte Vorzeichen tragen und somit einen komplementären Status innehaben. Diesen formalen Sprachgebrauch ausdrücklich als Metapher kennzeichnend, kann Lévi-Strauss mithin formulieren, daß sich daher Kreuzcousins/cousinen einander "anziehen" (der physikalischen Vorzeichenkonvention folgend). 31

Auf diese Weise können wir gut erkennen, mit welchen Mitteln die strukturalistische Anthropologie darauf abzielt, soziale Systeme durch ihre Strukturen zu charakterisieren, indem sie die letzteren als abstrakte Repräsentation nutzt, sie auf einen sozialen Raum der Interaktionen abbildend, auf den topologische und geometrische Eigenschaften angewendet werden können, welche ihre Anschaulichkeit aus ihrer Nähe zu universalen Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung beziehen. Umso mehr versteht sich, daß Strukturen dieser Art nicht wirklich Bestandteil des bewußten Verhaltensrepertoirs von Mitgliedern eines Kollektivs sind, denn ihre operative Verwendung würde ja die Notwendigkeit formaler Kenntnisse implizieren. Und es wäre absurd, von Amazonas-Indianern mathematische Vorkenntnisse zu verlangen, damit man ihnen zuschreiben könnte, ihr eigenes Sozialsystem zu begreifen. Nicht, daß sie nicht imstande wären, sich solche Kenntnisse anzueignen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekämen. Aber natürlich verstehen sie ihr eigenes Sozialsystem schon allein qua Sozialisierung, eben nicht notwendig auf reflexive Weise, sondern prä-reflexiv oder unbewußt. Im übrigen geht es dabei dem Durchschnittsbürger eines westeuropäischen Staates nicht anders: Jederzeit kann mit beliebigen Personen ein operativer Diskurs über die Grundlagen des eigenen Staatswesens hergestellt werden, auch wenn soziologische, politische und andere Kenntnisse gar nicht explizit vorliegen. Ihre Wirkungen sind jedoch dem Alltagsdiskurs immer schon implizit. Daraus folgt aber sogleich eine Verschärfung der folgenden Aussage von Lévi-Strauss: Dieser formuliert, daß auch "[d]ie beste ethnographische Untersuchung... niemals den Leser in einen Eingeborenen verwandeln" wird?32 Wohl war! Aber es geht noch weiter. Man müßte hinzufügen: Ganz entsprechend wird durch eine ähnliche Untersuchung des eigenen Kollektivs eine Verfremdung erzeugt, die es erheblich schwierig werden läßt, als Eingeborener das eigene Kollektiv zu verstehen. Anders gesagt: Auch der Eingeborene einer westlichen Kultur europäischer Prägung ist nicht notwendigerweise von vornherein imstande, eine ethnographische Untersuchung seiner eigenen Kultur zu verstehen. Beispielsweise ist es bereits problematisch, ein Äquivalent zu jener herausgehobenen Bedeutung des "Familienatoms" im Sinne von Lévi-Strauss zu finden, das in europäischen Kulturfeldern, sagen wir in Deutschland, Gültigkeit hat. Lévi-Strauss diskutiert ja dieses "elementare" Familienatom, nämlich die Beziehung von Ego zum Mutterbruder (oder: das Avunkulat) unter dem Aspekt des Familiengleichgewichts: Die Macht des Bruders über die Schwester läßt nach zugunsten der Macht des (prospektiven) Gatten über die Frau. Zugleich schwächt sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn ab, während jene zwischen Mutterbruder und Neffe sich verstärkt. 33 Auf den ersten Blick scheint es Schwierigkeiten zu bereiten, in einer westlichen Gesellschaft hierfür Äquivalente zu finden. Schon allein deshalb, weil wir kaum mehr groß zwischen Elterngeschwistern zu differenzieren pflegen. Das heißt, die Bedeutung eines Onkels (oder einer Tante) für Ego bestimmt sich eher aus dem persönlichen Verhältnis zum Individuum, aber nicht mehr unter Gleichgewichtsaspekten, die nötig sind, weil von vornherein die Familie nach Maßgabe der Kriterien von Alter und Geschlecht explizit hierarchisiert wäre. Gleichwohl sind diese Kriterien auch in westlichen Kulturen europäischer Prägung nicht wirklich verschwunden; sie sind lediglich uminterpretiert worden. Anders gesagt: Es gibt nach wie vor eine Form des "mentalen Gerüsts" der sozialen Interaktion, das wesentlich auf den drei Säulen "Sozialreger (Konvention), "Reziprozität" und "Geschenk" aufgebaut ist. 34 Mithin verschwindet auch nicht das explizite Bedürfnis nach Gleichgewicht, denn dieses bezieht sich eher auf das mentale Gerüst, weniger auf die faktische Ausprägung der Details dessen, was auf dem Gerüst errichtet wird (oder was von dem Gerüst strukturell gestützt wird). Jede kleine Familienfeier, jedes ritualisierte Fest, auch, wenn es sich nur noch auf die bloße Form reduziert hat (z.B. europäisches Weihnachten), jede Gelegenheit solcher Art demonstriert für sich genommen neuerlich dieses Bedürfnis, für das man jedesmal zahlreiche empirische Indizien sammeln kann. Man denke nur an den Austausch von Geschenken (in der Form des potlatch übrigens eine Erfindung nordamerikanischer Indianer).

Nochmals zurück zur Magie: Auch die eben beschriebenen, eher formalisierten Repräsentationen von sozialen Systemen tangieren durchaus deren praktisches Feld. Nicht deshalb, weil auch unsere Gesellschaft heute noch inhärent magisch verfaßt wäre. Es gibt zwar zahlreiche magische Alltagsrituale, die noch häufig vollzogen werden, ohne daß wir ihnen sehr viel Beachtung schenken würden. Wenn es jedoch um die technische Planung von Prozessen und Operationen geht, werden diese Reminiszenzen sehr schnell in den Bereich des "Aberglaubens" abgedrängt. Das "Erbe der Aufklärung" hat hier nach mehr als zweihundert Jahren seine Folgen entfaltet, wenn diese auch vielleicht sehr oft nur unverstanden genutzt werden. (Und das zu Recht beklagte irrationale Verhalten vieler Menschen ist hauptsächlich eher anderen Dingen geschuldet, nicht dem Glauben an die Magie.) Gleichwohl behält die Magie einen rudimentären Wirkungsbereich inmitten des aufgeklärten Alltags, insofern sie nämlich an all jene affektiven Resonanzen gebunden bleibt, die auf der präreflexiven Ebene des Bewußtseins mit symbolischen Harmonien verbunden werden. Vermutlich kann man diese Tendenz als eine Begleiterscheinung des hohen Abstraktionsgrads europäischer Zeichenverwendung ansehen, einer Schriftkultur geschuldet, die immer mehr zur Formalisierung neigt. Lévi-Strauss hat einige sehr anschauliche Alltagsbeispiele in diesem Zusammenhang angeführt. So weist er etwa darauf hin, daß schon die phonetische Differenz benachbarter Sprachen (zum Beispiel des Englischen und des Französischen) völlig verschiedene Konnotationen von Wörtern erweckt, die imstande sind, ganz praktische Alltagsfolgen zu entfalten. So vergleicht er das französische Wort für Käse (fromage) mit der affektiven Resonanz, die das Schwere, Fette erzeugt (pates grasses), während das englische Wort (cheese) die Leichtigkeit des Weißkäses assoziiert. Ähnliche Beobachtungen kann man mit den Wörterpaaren time/temps machen (wobei das französische Wort zudem noch das Wetter bezeichnet, das im Englischen gesondert durch "weather" ausgedrückt wird) sowie mit chair/armchair im Vergleich zu chaise/fauteuil. 35 Seit Mallarmé arbeitet die Poesie ganz explizit mit solchen assoziativen Konnotationen, die affektive Resonanzen zu erzeugen vermögen.

Wohlverstanden, handelt es sich hierbei nicht um bloße Assoziationsspiele, von mehr oder weniger arbiträrer Bedeutung. Die Menschen verhalten sich auch konkret diesen Assoziationen entsprechend (und wählen zum Beispiel Käse wirklich aus, mit ganz praktischen Wirkungen für dessen Umsatz). Es liegt daher nahe, das ganze Feld des Alltags mit einem Netzwerk elementarer Kategorien zu überziehen, deren Konnotation jeweils auf assoziative Weise aus affektiven Resonanzen der geschilderten Art abgeleitet werden kann. Im Laufe des Vorliegenden werden wir noch mehrfach solche Kategorien zu benennen haben. In diesem Sinne sind alle Details des Systems im Rahmen einer stringenten Hermeneutik notwendig und ihre Position ist für sich von zwingender Bedeutsamkeit. Vor allem aber erkennen wir hierbei auch folgendes: Die konkrete Produktion von (konventionell) vorherrschenden Bedeutungsverweisungen ist wesentlich intuitiv und assoziativ strukturiert. Das heißt, es sind weniger die einzelnen Regeln in einem "Regeluniversum"36, welche die kulturellen Spezifika des menschlichen Verhaltens als Universalien bestimmen, als vielmehr der Sachverhalt selbst, daß es überhaupt Regelsysteme dieser Art inmitten eines Regeluniversums gibt. Beispielsweise gelangt Lévi-Strauss zu der oben zitierten Schlußfolgerung, die Heiratsmöglichkeit zwischen Kreuzcousin und Kreuzcousine betreffend, indem er sie wie eine universelle Regel entwirft und auch so formuliert. In der Tat konnte diese Regel auch längere Zeit als Universalie beibehalten werden, bis schließlich Bourdieu zu zeigen in der Lage war, daß es zumindest eine Kultur gibt, nämlich die von ihm selbst untersuchte kabylische Gesellschaft in Algerien, bei der die Heirat zwischen Parallelcousin und Parallelcousine eine bedeutende Rolle spielt. 37 Bourdieu formuliert ganz explizit: "So wird die Sorge um die Reinheit des Blutes und die Unbeflecktheit der Familienehre am häufigsten als Grund angegeben, um die Heirat mit der parallelen Cousine zu rechtfertigen. Von dem jungen Mann... sagt man: "Er hat sie beschützt." [E]r hat so gehandelt, daß das Geheimnis der Familienintimität gewahrt geblieben ist."38 Es geht also in der Hauptsache darum, von einer parallelen Cousine, die praktisch Familienangehörige in dem Sinne ist, daß ihre Heirat mit dem Parallelcousin wie ein Inzest gewertet werden kann, mehr "Familiensolidarität" zu erwarten als von einer Kreuzcousine: " [Man] kann sicher sein, daß [sie] alles tun [wird], um die Ehre des Mannes zu bewahren, daß sie familiäre Konflikte geheimhält und sich nicht bei ihren Eltern beklagt."39 Wie Bourdieu anschließend in der Diskussion des Ethos der Ehre bei den Kabylen zeigen kann, ist es also vor allem eine Individualregel der spezifischen Gruppe, welche mit der Universalität einer Systemregel interferiert. In der (schon rein sprachlich betrachteten) Quiddität des Kabylen, die auszudrücken unternimmt, was den Kabylen faktisch zum Kabylen macht, zeichnet sich ein Begriffsrealismus ab, der die nominalistische Struktur des Systemmodells (der Heiratsregeln) zwangsläufig durchbrechen muß. Mithin muß auch ein Ethos der Ehre sich zugleich jeder formalen bzw. universalen Moral widersetzen. 40 Die Auflösung dieses Problems liegt in der angemessenen Positionierung des Ethnologen, eine seit Malinowski und Lévi-Strauss permanent vorschwebende Aufgabenstellung, zugleich eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Systematik und Methodik des ganzen Forschungsfeldes. Wie Bourdieu zu Recht bemerkt, hängt die Erkenntnis nicht nur, "wie der elementare Relativismus lehrt, von dem besonderen Standpunkt ab, den ein "nach Raum und Zeit festgelegter" Beobachter gegenüber dem Gegenstand einnimmt, sondern auch davon, daß er als Betrachter, der gegenüber dem Handeln einen Standpunkt einnimmt, der sich zurückzieht, um es zu beobachten, um es aus der Entfernung und von oben in Augenschein zu nehmen, die praktische Tätigkeit zum Gegenstand der Beobachtung und Analyse macht."41 (Den zu einer solchen Einsicht führenden Lernprozeß vergleicht Bourdieu mit jenem der Architekten, die erst spät eingesehen hätten, daß ihre Stadtentwürfe immer eine quasi göttliche Perspektive, also einen absoluten, externen Standpunkt, unterstellten.) Stets schließe der angezielte Objektivismus einen virtuellen Essentialismus mit ein. (In diesem Sinne kann auch die Arbeit von Lévi-Strauss dieser Kritik nicht entzogen werden, freilich auch nicht die eigene Bourdieus. Es scheint angeraten, in diesem Problem des angemessenen Verhältnisses von Nähe und Ferne ein Grundproblem interkultureller Kommunikation festzustellen. Sartre hat dazu Erhellendes ausgeführt. 42)

Im wesentlichen kann somit der von Lévi-Strauss selbst aufgestellte Grundsatz beibehalten werden, der davon ausgeht, daß alles Universelle im Menschen sich im Verhältnis zur Naturordnung bestimmt, während alles auf eine Norm Bezogene kulturell und somit relativ und besonders ist. 43 Wir sehen aber, daß jenes Universelle vor allem in der Definition des Menschen zu finden sein wird. Diese aber erweist sich, gerade weil der Mensch immer nur als sozial vermittelter aufgefaßt werden kann, als ein Bündel von konsumtiven Systemeigenschaften des sozialen Systems. Diese Systemeigenschaften spannen einen "Spielraum der Dispositionen" auf, in dessen Rahmen kulturelle Vielfalt sich zu entfalten vermag. Gleichwohl: Es gibt diesen Rahmen, und er ist verbindlich und besitzt daher auch verbindliche ethische Implikationen. Streng genommen, verhalten sich die kulturellen Formen zu jenem Rahmen wie verschiedene Perspektiven, unter denen die Welt in Sicht genommen wird, zur tatsächlichen Welt, wie sie aber niemand wahrzunehmen imstande ist. Anders gesagt: Sie verhalten sich wie Attribute der Substanz zur Substanz selbst.

Daraus erhellt unmittelbar, auf welche Weise überhaupt nur erweiternde Einsicht gewonnen werden kann: "Wenn wir die Begriffe in dem Sinne verstehen, den wir ihnen gegeben haben, so wissen wir, daß jeder kulturelle Fortschritt Funktion einer Koalition zwischen den Kulturen ist. Diese Koalition besteht in der... Zusammenlegung der Chancen, die jede Kultur in ihrer historischen Entwicklung hat..."44 Wir sehen hierbei zumindest, was von interkultureller Kommunikation praktisch zu erwarten steht: Die Erschließung von solchen Bereichen des zuvor aufgespannten Spielraums der Dispositionen, die aus einer je einzelnen Perspektive heraus verborgen bleiben müssen. Erweiternde Einsicht in die Welt ist gleichbedeutend mit Selbsterweiterung. Und kommunikativ bewirkte Selbsterweiterung kommt übrigens der ursprünglichen Definition der Liebe im Sinne Platons (zumindest dem Grundgedanken nach) bereits sehr nahe.

Die neueren Annäherungen an die hier dargelegte Problemstellung haben viele der besprochenen Aspekte bereits berücksichtigt und mit in ihre Erörterungen aufgenommen. Es bedarf freilich noch einer Zusammenführung des Gesamtbildes, von dem aus verbindliche (Zwischen-) Ergebnisse zu erwarten wären. Wir werden deshalb zunächst eher "klassisch" beginnen, nämlich mit der Theorie Sartres, der das erste Kapitel gewidmet ist. Das zweite Hauptwerk Sartres, die "Kritik der dialektischen Vernunft"45, ist ja von vornherein als eine Bereitstellung von "Prolegomena zu einer jeden künftigen Anthropologie"46 konzipiert. Wie Sartre ausführt, geht die kritische Erfahrung immer schon auf die Grundlegung einer strukturellen und historischen Anthropologie. Dabei begründet das regressive Moment der Erfahrung (im Rahmen der Sartreschen progressiv-regressiven Methode) die Intelligibilität des soziologischen Wissens, während das progressive Moment jene des historischen Wissens begründet. In diesem Sinne sollte der erste Band der "Kritik der interkulturellen Vernunft" die intelligiblen Grundlagen einer strukturellen Anthropologie bereitstellen. 47 In seinem Nachwort hebt Sartre hinsichtlich der verfügbaren Mittel zur Entwicklung einer solchen Anthropologie vor allem die marxistische Methodik hervor und zielt dabei auf eine strenge Auslegung des Interdisziplinaritätsgebots ab: "Wenn es in der Anthropologie so etwas wie eine Wahrheit geben soll, muß sie geworden sein, muß sie sich zu einer Totalisierung machen."48 Genau dieses Unternehmen soll im Vorliegenden vorangetrieben werden. Dabei wird das oben Ausgeführte als Rahmenvorgabe zu beachten sein, allerdings auch als Kriterium für die Beurteilung der Allgemeingültigkeit des Sartreschen Ansatzes zu dienen haben. Methodische Grundlagen für eine "Kritik der Kritik" in diesem Sinne sind in neueren Untersuchungen gleichfalls bereits zur Verfügung gestellt worden, etwa in den kürzlichen, sehr bedeutsamen Veröffentlichungen von Bourdieu49 oder in einigen thematisch ausgreifenden Sammelbänden der letzten Jahre, wie sie zum Beispiel von Schmied-Kowarzik und anderen50 herausgegeben worden sind oder von Weiland51, oder auch in den äußerst erhellenden Arbeiten von Mall. 52 Gerade in den Darlegungen des letzteren anläßlich des Stuttgarter Hegel-Kongresses von 1993 lassen sich bereits wichtige Grundgedanken finden, an welche das Vorliegende zwanglos anzuschließen in der Lage ist.

In den nachfolgenden Kapiteln (Kapitel 2 bis 4) werden wir selbst eine Rekonstruktion des Vernunftbegriffs unternehmen, der bereits auf die Einsichten zugeschnitten ist, wie wir sie im Verlauf dieser Vorrede andeutend vorweggenommen haben. In diesem Zusammenhang wird es vor allem darum gehen, das genaue Verhältnis zwischen der Wahrnehmung der Welt und der Modellierung der Welt durch menschliches Denken zu bestimmen, den Begriff der Kommunikation zu diskutieren, um das Spezifische an ihr erfassen zu können, wenn sie durch das Adjektiv "interkulturell" näher qualifiziert wird, und erste Vorschläge für jene Kategorien zu machen, welche als unveräußerliche Universalien menschlichen Denkens "stehengelassen" werden können. In diesem Sinne lassen sich die Grundsätze des Vorliegenden wie folgt zusammenfassen: Wir unterstellen 1. eine empirische Grundhaltung am Anfang allen Philosophierens, 2. den Gedanken, daß Ethik im Grunde Wissen sei. Zugleich geht es darum, in Sartrescher Sichtweise, 3. die traditionelle Identitätsethik durch eine Differenzethik zu ersetzen und insofern 4. Interkulturalität parallel zu jener Differenzethik zu entwickeln. Schließlich gilt es noch, mit Bourdieu, 5. die Ethnologie auch auf das bekannte Eigene anzuwenden. Abschließend werden wir ethische Implikationen zu erörtern haben, die als unmittelbare Konsequenzen aus den erzielten kategorialen Ergebnissen aufzufassen sind. Diese vorerst noch im Sinne eines offenen Theorieentwurfs als vorläufig anzusehene Erkenntnislage soll zudem als Ausgangspunkt für weitere Forschung dienen.






1Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, ed. R. Schmidt, Meiner, Hamburg, 1993 (1781/7), 8.
2Ibd., 38* (B 1).
3Ibd. (B 1 sq.)
4Ibd., 39* (B 3).
5Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, ed. K. Vorländer, Meiner, Hamburg, 1993 (1788), § 7, 36 sqq.
6Ernst Bloch: Experimentum Mundi, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1985 (1975), 40.
7Kritik der reinen Vernunft, 46* (B 12).
8Es scheint an dieser Stelle angeraten, darauf zu verweisen, daß der Begriff "soziales Kollektiv" lediglich als eine abkürzende Bezeichnung für eine Teilmenge der Menschheit im früher diskutierten Sinne verwendet wird, bezogen auf eine beliebige Position inmitten der Hierarchieebenen der sozialen Organisationen. Der Begriff soll aber nicht die Organisationsform im einzelnen festlegen und etwa auf eine identische Ausrichtung der Verhaltensweisen derer hindeuten, die jenes Kollektiv konstituieren. Ganz im ursprunglichen Sprachsinne bedeutet "Kollektiv" mithin etwas Ähnliches wie der Begriff "Kollektion".
9Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1986, 12.
10Ibd., 17.
11In meiner Kasseler Antrittsvorlesung bin ich auf dieses Thema ausführlich eingegangen: Rem Gerere. Zur Logik der Operationalisierung in der heutigen Philosophie. Nebst einem Anhang über prägeometrische Aspekte der modernen Physik. System & Struktur VI/1&2, 1998 [Averroes-Sondernummer], 149-228.
12Ich bin in meinen Hermeneutik-Vorlesungen auf diesen Aspekt eingegangen: Diskurse des Unsagbaren. Vorlesungen über Hermeneutik. Magenta, München, 2002.
13Georg W. Alsheimer (d.i. Erich Wulff): Vietnamesische Lehrjahre, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2. Auflage, 1972. Ebenso: Eine Reise nach Vietnam, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1979.
14Agostino Pirella: Was den "Bedarf an Theorie" betrifft. Zur Lage der demokratischen Psychiatrie. In: W. F. Haug, H. Pfefferer-Wolf (eds.), Fremde Nähe (Festschrift für Erich Wulff), Argument, Berlin, Hamburg, 1987, 37-51. Hier: 43 und Anm. 12, 51.
15Erich Wulff: Zementierung und Zerspielung. Zur Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz. In: W. F. Haug, H. Pfefferer-Wolf (eds.), op.cit, 171-212. Hier: 175.
16Michel Leiris: Das Heilige im Alltagsleben (1935), in: id., Die eigene und die fremde Kultur (Ethnologische Schriften I), Suhrkamp, Frankfurt a.M, 1985 (Syndikat 1977), 228-238. Hier: 232.
17Erich Wulff: Psychiatrie und Klassengesellschaft. Athenäum, Frankfurt a.M, 2. Auflage 1977, 31, 33.
18Hans-Jürgen Heinrichs: Aufbruch in eine neue Welt. In: Thomas Beckermann (ed.), Hubert Fichte, Materialien zu Leben und Werk, Fischer, Frankfurt a.M., 1985, 178-183, hier: 183. (Erstmals in Die Zeit vom 10.10.1980.) Man sehe auch id.: Die authentische Beschreibung der fremden Kultur. In: Thomas Beckermann (ed.), op.cit., 142-151. (Erstmals in der Frankfurter Rundschau vom 4.12.1976.)
19Heinrichs: Die authentische Beschreibung der fremden Kultur, op.cit., 150.
20Hubert Fichte: Das Land des Lächelns. In: id., Homosexualität und Literatur 1, Fischer, Frankfurt a.M., 1987, 319-351. Hier: 330.
21Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1968 (Plon, Paris, 1962), 183.
22Jean Piaget: Der Strukturalismus. Walter, Olten und Freiburg/Br., 1973 (PUF 1968). Zu Lévi-Strauss sehe man vor allem Kapitel 6.
23Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, op.cit., 22.
24Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2. Auflage 1981 (Plon, Paris, 1958), 188 sqq.
25Ibd., 190.
26Das wilde Denken, op.cit., 29 sq., 176.
27Ibd., 27.
28Daraus ergibt sich zugleich die Irreduzibilität der Welterklärung: Moderne Naturwissenschaft leugnet jeden magischen Bezug, während jede Magie moderne Naturwissenschaft als eine ihrer Formen zu vereinnahmen unternimmt. Ein Medizinmann aus dem Amazonas-Gebiet würde deshalb, brächte man ihn vorübergehend in eine europäische Großstadt, anerkennen, daß seine Gastgeber über eine mächtige Magie verfügen, angesichts der zahlreichen technischen Anwendungen im Alltag, er würde aber zu keinem Zeitpunkt vermuten, daß es sich gar nicht um Magie handelt. Denn das wäre ja das Chaos. Aber was er faktisch beobachtet, ist offensichtlich das Gegenteil davon.
29Das wilde Denken, op.cit, 268.
30Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1949), hier nach der amerikanischen Ausgabe, Beacon Press, Boston, 1969, 98.
31Ibd., 141. - Es ist angebracht, aus gegebenem Anlaß, darauf zu verweisen, daß die formalen Mittel der systematischen Repräsentation hier stets als Metapher zu verstehen sind und dabei in der Hauptsache der Veranschaulichung komplexer Sachverhalte dienen, ohne implizieren zu wollen, daß es sich um identische Phänomene handelt. Die kürzlich geäußerte Kritik einiger Naturwissenschaftler am Gebrauch solcher physikalischer wie mathematischer Analoga hat diesen Umstand leider übersehen und dadurch fälschlich den Eindruck erweckt, die geisteswissenschaftliche Terminologie versuche, explizit auf naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit auszugreifen.
32Strukturale Anthropologie I, op.cit., 30.
33Ibd., 59 sq.
34Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, op.cit, 84.
35Strukturale Anthroplogie I, op.cit., 108 sq.
36Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, op.cit., 29.
37Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1979 (1976) (Droz, Genève, 1972).
38Ibd., 43.
39Ibd.
40Ibd., 44.
41Ibd., 142.
42Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Neuübersetzung von Traugott König, Rowohlt, Reinbek, 1993 (Gallimard, Paris, 1943), 77.
43Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, op.cit., 8.
44Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthroplogie II, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1975 (Plon, Paris, 1973), 403.
45Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft, Rowohlt, Reinbek, 1967 (Gallimard, Paris, 1960, 1985).
46Ibd., 68.
47Ibd., 71 sq.
48Ibd., 868.
49Vor allem in Pierre Bourdieu (ed.): Das Elend der Weit. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. UVK Universitätsverlag Konstanz, 1997.
50Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Justin Stagl (eds.): Grundfragen der Ethnologie, Reimer, Berlin, 2. Auflage 1993. - Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Dirk Stederoth (eds.): Kulturtheorien. Annäherungen an die Vielschichtigkeit von Begriff und Phänomen der Kultur, Kasseler Philosophische Schriften, 1993.
51René Weiland (ed.): Philosophische Anthropologie der Moderne. Beltz-Athenäum, Weinheim, 1995.
52Ram Adhar Mall: Zur interkulturellen Theorie der Vernunft - Ein Paradigmenwechsel. In: H. F. Fulda, R.-P. Horstmann (eds.), Vernunftbegriffe in der Moderne (Stuttgarter Hegel-Kongreß 1993), Klett-Cotta, Stuttgart, 1994, 750-774. - Ram Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1995. - Ram Adhar Mall: Mensch und Geschichte. Wider die Anthropozentrik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2000. - Ram Adhar Mall: Konzept der interkulturellen Philosophie, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 307-326.